Zeitreise | Stadt & Geschichte

Von der Heimarbeit zum Home-Office

Die Berufsarbeit in den eigenen vier Wänden zu erledigen, ist kein Phänomen des Computerzeitalters. Während «Home-Office» aber in den meisten Fällen mehr Lebensqualität mit sich bringt, war die «Heimarbeit» vor der Industrialisierung eine äusserst ausbeuterische Arbeitsform.

Das Konzept des «Home-Office» oder der Heimarbeit setzt zunächst einmal voraus, dass Arbeit und Wohnen im Normalfall an verschiedenen Orten stattfinden. Diese Unterscheidung von Wohn- und Arbeitsort war vor dem Industriezeitalter für die meisten Menschen belanglos. Im Mittelalter lebten die Menschen auf dem Hof, wo sie tagsüber auch arbeiteten. Wobei man eher am Arbeitsort wohnte als umgekehrt: Ein mittelalterlicher Ladenbesitzer übernachtete in seinem Laden, Knechte schliefen im Stall, Holzfäller und Mineure campierten in einer Hütte auf der Lichtung. Eigentliches «Wohnen» war dabei der Oberschicht vorenthalten, und diese ging in den wenigsten Fällen einer regelmässigen Arbeit nach. Selbst der Sonnenkönig Louis XIV arbeitete bekanntlich von seinem Bett aus. Home-Office avant la lettre.

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Im Mittelalter arbeitete und schlief man oft am gleichen Ort, wie diese Bergbau-Arbeiter in einer Darstellung auf dem Annaberger Bergaltar (Sachsen) aus dem 16. Jahrhundert. (Bild: Wikimedia)

Im Spätmittelalter entwickelte sich das System der Heimarbeit. Neben der Landwirtschaft, die grösstenteils für den Eigenbedarf betrieben wurde, produzierten viele Familien zuhause Zwischenprodukte für die spätere Verarbeitung durch Handwerker. Die Rohstoffe pflanzten die Bauern derweil nicht selber an, sondern erhielten sie von einem Unternehmer zur Verfügung gestellt. So wurden beispielsweise in vielen Appenzeller Bauernhäusern Flachsgarn und Leinwand für die städtischen Webermeister gefertigt und Familien im Zürcher Oberland und im Glarnerland verarbeiteten Baumwolle zu Garn und Stoff.

Die Heimarbeitenden erhielten keinen festen Lohn.

Das später von findigen Kaufleuten entwickelte «Verlagssystem» ging noch einen Schritt weiter: Der städtische Unternehmer stellte der Bauernfamilie nicht nur die Rohstoffe oder sogar fertige Stoffe zur Verfügung, sondern lieh ihm auch die Produktionsgeräte wie beispielsweise einen Webstuhl.

Kooperation

Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Blog des Landesmuseums erschienen. Dort gibt es regelmässig spannende Storys aus der Vergangenheit. Egal ob Doppelagent, Hochstapler oder Pionier. Egal ob Künstlerin, Herzogin oder Verräterin. Hier kann man eintauchen in den Zauber der Schweizer Geschichte.

Die Arbeitskräfte, zu denen oft auch die Kinder gehörten, produzierten in Heimarbeit die Stoffe oder veredelten sie mit Stickereien. Die Heimarbeitenden erhielten keinen festen Lohn, sondern wurden nach Qualität und produzierter Menge bezahlt. Die fertigen Produkte gingen zurück zu den Kaufleuten, die diese in die ganze Welt exportierten.

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Zwei Frauen in der Stube an der Arbeit: die eine am Spinnrad, die andere am Webstuhl, um 1890. (Foto: Schweizerisches Nationalmuseum)

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Blick in einen Webkeller im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Druckgrafik von Johannes Schiess, um 1850. (Foto: Schweizerisches Nationalmuseum)

Im 18. Jahrhundert war das System der Heimarbeit so erfolgreich, dass Spuren davon noch heute an der Architektur der Häuser abgelesen werden können, wie beispielsweise an einem typischen Appenzeller Bauernhaus jener Zeit: Der im Untergeschoss eingerichtete Webkeller garantierte das für die Stoffverarbeitung notwendige feuchte Klima, schmale Fenster knapp über dem Boden sorgten für genügend Licht. Zur Hochblüte der Stickerei machte der Stall einem Sticklokal mit hoher Decke und grossen Fenstern Platz. Die Verkleinerung des Stalls zeigt auch, wie die Heimarbeit die Landwirtschaft mehr und mehr zum Nebenerwerb machte.

Mindestlöhne in der Heimarbeit wurden erst 1940 eingeführt.

Speziell in der Uhren- und Textilindustrie war das Verlagssystem die dominante Produktionsform. Obwohl die Arbeitskräfte keiner direkten Kontrolle durch den Arbeitgeber ausgesetzt waren, bestand eine hohe Abhängigkeit. Tiefe Löhne und die Tatsache, dass die Produktionsmaschinen oft im Besitz der Kaufleute blieben, brachten die Heimarbeiter bei kleinsten Verzögerungen in der Produktionskette in Schwierigkeiten. Schon kleine Rückgänge in der Auftragslage führten bei den Heimarbeitenden zu Lohneinbussen – bei den schon so sehr knappen Einkommen waren diese Ausfälle verheerend. Auch Ausbeutung und Kinderarbeit gehörten zum System der Heimarbeit. Mindestlöhne in der Heimarbeit wurden erst 1940 eingeführt. Bis dann war das System der Heimarbeit allerdings weitgehend verschwunden. Vollautomatisierte Maschinen konnten nicht mehr im Bauernhaus untergebracht werden und so wurden die Arbeitskräfte nach der Industrialisierung zur Produktion in den Fabriken gebraucht. 1850 waren 75 Prozent der industriellen Erwerbstätigen der Schweiz in der Heimindustrie beschäftigt, um 1900 war es noch ein Drittel.

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Bub bei der Heimarbeit am Spinnrad, um 1940. (Foto: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL)

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Mädchen bei der Herstellung von Socken, um 1940. (Foto: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL)

Mit dem Aufkommen von Fabriken und der zunehmenden Bedeutung von Finanz- und Informationsflüssen entfernten sich Wohn- und Arbeitsort zunehmend voneinander. Zunächst waren Arbeitsplatz und Arbeiterbehausungen nur ein Steinwurf voneinander entfernt und wurden vom Patron meist eigens für die Arbeiter errichtet. Mit zunehmendem Wohlstand emanzipierte sich die Arbeiterschaft aber vom Leben unter der Kontrolle des Chefs. Es lockte das Haus in der Vorstadt, die komfortable Mietwohnung im Hochhaus oder später die elegante Wohnung in der Altstadt.

Berge von Akten mussten zentral an einem Ort verfügbar sein.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts waren immer mehr Menschen im Dienstleistungssektor angestellt. Hier war ein Büro vor dem Beginn des Technologiezeitalters auch aus logistischen Gründen eine Notwendigkeit. Berge von Akten, Karteien und Papieren sowie die Korrespondenz mussten zentral an einem Ort verfügbar sein. Eine Verwaltungsangestellte musste aber nicht nur Zugriff auf analog gespeicherte Informationen haben, sondern auch für ihre Vorgesetzten in Person erreichbar sein. Ein auf Effizienz ausgerichteter Arbeitsort war also unerlässlich.

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Eine Sekretärin an ihrem Arbeitsplatz, um 1950. (Foto: Schweizerisches Nationalmuseum)

Die Corona-Pandemie hat das Home-Office bei vielen Unternehmen in den Fokus gerückt.

Der Trend, dass der Arbeits- und Wohnort im 21. Jahrhundert wieder näher zusammenrückt, wurde zwar von der Corona-Pandemie beschleunigt, begann aber schon mit dem Aufkommen des Personal Computers und des Internets. Bereits in den 1980er-Jahren gab es erste Formen der damals noch so genannten «Telearbeit». Entscheidend war nun, dass die Arbeitnehmenden dank der neuen Telekommunikationsmittel die Möglichkeit hatten, von zuhause aus oder in einem dezentralen Büro ihre Arbeit zu erledigen. Als eines der ersten Unternehmen in der Schweiz experimentierte die Schweizerische Kreditanstalt mit der Telearbeit. 1989 beschäftigte sie 65 Mitarbeitende in sechs Telearbeitszentren in Lausanne, Lugano, Basel, Luzern, Winterthur und Zug. Während die Unternehmensleitung eine positive Bilanz zog, warnten Gewerkschaften vor Isolation und vermindertem Arbeitnehmendenschutz.

Heute sind es Argumente wie reduzierte Umweltbelastung durch weniger Mobilität, mehr Flexibilität bei der Gestaltung des Arbeitstages sowie die bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, die das Home-Office für Arbeitnehmende attraktiv machen – Argumente und Realitäten, die sich von der Realität der Heimarbeit vor 200 Jahren diametral unterscheiden. Die Corona-Pandemie hat das Home-Office bei vielen Unternehmen in den Fokus gerückt, die sich bisher nicht mit dem Thema beschäftigt hatten. Während die Heimarbeit Geschichte ist, wird sich zeigen müssen, welche Zukunft das Home-Office hat.