Stadt & Geschichte | Bauten im Wandel

Turbinenstrasse 12/14: Wie Zürich ein altes Arbeiterhaus dem Wandel opferte

Text: Ueli Abt Fotos: Baugeschichtliches Archiv

Am Escher-Wyss-Platz hätte eine multifunktionale Kunstinstallation mit dem Titel «Nagelhaus» mit leichter Ironie die Themen Wandel und Widerstand aufgreifen sollen. Ein paar Jahre danach bekam Zürich allerdings dann in Gehdistanz ein echtes Nagelhaus.

Von 2007 bis 2009 sorgte eine Kunstinstallation für Schlagzeilen in der Schweizer Presselandschaft. Die Stadt wollte damals den Escher-Wyss-Platz mit einer besseren Gestaltung beleben. Das Projekt «Nagelhaus» war als eine Kunstinstallation gedacht, die zunächst den Wandel im einstmals industriell geprägten Quartier zum Thema machte. Nach Absicht seiner Schöpfer hätte es wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit wirken sollen – als wäre es zuerst dort gewesen, und als wäre ihm später die Hardbrücke über den Kopf gewachsen.

Das Projekt «Nagelhaus» hatte das verantwortliche Architekturbüro in Zusammenarbeit mit dem Künstler Thomas Demand entworfen. Nagelhäuser heissen Häuser, die vorerst wie ein Nagel in einem Brett stecken bleiben, weil sich deren Besitzer dem Abbruch widersetzen. Der Teil mit dem Bistro glich auf den Projekt-Visualisierungen einem realen Nagelhaus in der chinesischen Millionenstadt Chongqing, das durch ein Pressefoto weltweit bekannt geworden war.

Die dezent ironische Kunstinstallation scheiterte schlicht an den Kosten.

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Dass die dezent ironische Kunstinstallation auch eine kleine Gaststätte, öffentliche Toilette und ein Kiosk gewesen wäre, half dem Projekt nichts – es scheiterte schlicht an den Kosten. «6 Millionen für ein Hüsli» spottete der «Blick» in seiner gedruckten Gratis-Abendausgabe. Gegen das teure «chinesische» Haus war auch die SVP. Das Zürcher Stimmvolk lehnte das «Nagelhaus» 2010 an der Urne denn auch ab. Stattdessen wurde am Escher-Wyss-Platz ein kostengünstigeres Kunstwerk ohne WC, Kiosk und Restaurant realisiert.

Von den Arbeiterhäusern war mittlerweile nur ein einziges übriggeblieben.

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Nur ein paar Jahre später erhielt Zürich ein richtiges Nagelhaus. Und dies nur wenige Schritte vom Escher-Wyss-Platz entfernt. Die Liegenschaft Turbinenstrasse 12/14 hatte die Firma Escher Wyss erbauen lassen. 1890 hatte sich die Maschinenfabrik, damals noch auf der grünen Wiese am Stadtrand, angesiedelt. Von da an entwickelte sich das Gebiet im Lauf der kommenden Jahre zum Industriequartier. Nicht weit entfernt vom Firmengelände war das Haus einst Teil einer ganzen Siedlung für die Fabrikarbeiter gewesen, bestehend aus ehemals neun Wohnblöcken.

Jahrzehnte später hatte sich das Quartier drastisch verändert. Maschinen-, Seifen- und Zahnradfabrik, um nur einige der Grossen zu nennen, hatten längst den Betrieb eingestellt. Das einstige Industrie- war zum Dienstleistungsquartier geworden mit Hotels, Büros, Kultur und Gastronomie.

Inzwischen waren in der Nachbarschaft Hochhäuser wie der Mobimo Tower oder etwas weiter entfernt der Prime Tower in die Höhe gewachsen.

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Weil die Besitzer*innen den Verkauf hartnäckig ablehnten, sah der Kanton nur noch eine Lösung: Zwangsenteignung.

Inzwischen waren in der Nachbarschaft Hochhäuser wie der Mobimo Tower oder etwas weiter entfernt der Prime Tower in die Höhe gewachsen. Hunderte neuer Wohnungen waren gebaut worden. Und nun brauchte das aufstrebende neue Quartier zwischen Bahngleisen und Pfingstweidstrasse auch eine geeignete Zufahrtsstrasse. Den Plänen des Kantons stand nur etwas im Weg: das alte Arbeiterhaus. Die verbliebene Liegenschaft Turbinenstrasse 12/14 mit ihrem L-förmigen Grundriss präsentierte sich zuletzt mit dem grünen Garten als ein etwas urwüchsiger Kontrapunkt zu den streng modernen neuen Bauten mit ihren gestylten, aber auch monotonen Fassaden.

2012, als Medienberichte den Abbruch ins öffentliche Bewusstsein gerückt hatten, gehörte der Block zwei Erbengemeinschaften. Einzelne Miteigentümer*innen wohnten selbst im Haus. Weil die Besitzer*innen den Verkauf hartnäckig ablehnten, sah der Kanton nur noch eine Lösung: Zwangsenteignung. Die Besitzer*innen sagten, eine Zufahrt hätte man auch am Haus vorbei bauen können. Doch der Kanton stellte sich auf den Standpunkt: Als die Wohnhäuser Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurden, seien sie ein «Fremdkörper» in dem von der Industrie geprägten Quartier gewesen – sie seien somit nicht schützenswert.

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Der Kanton verlor zunächst vor drei gerichtlichen Instanzen, worauf er die Sache ans Bundesgericht weiterzog. Das öffentliche Interesse an einer angemessenen Breite der Strasse wiege mehr als die «privaten Interessen an einer ungeschmälerten Eigentumsausübung», wie es in der Sprache der Juristen damals hiess. Es bedeutete: Die Eigentümer*innen der Häuser durften enteignet, die Häuser abgebrochen werden.

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Am 5. August 2016 fuhren die Bagger auf und begannen mit dem Abbruch.

Kritiker*innen liessen damals verlauten, es gehe gar nicht um die Strasse. Die alten Häuser seien einfach in dem zunehmend schick und luxuriös gewordenen Quartier mit gehobenem Hotel und teuren Eigentumswohnungen nicht mehr erwünscht. So sagte etwa die SP-Politikerin Jacqueline Badran in einem Beitrag von SRF, dass nun Menschen weichen müssten, damit man «mit viel Steuergeldern dem Immobilien-Finanzkapital eine standesgemässe Umgebung» bauen könne.

Hier die Büezer, dort die Kapitalisten – darauf spielte wohl auch eine subtile typografische Botschaft der Bewohner des Nagelhauses an. «Résistance» – Widerstand – schrieben sie mit nach unten laufenden Grossbuchstaben auf die Fassade. Das sah dem Schriftzug des nahen Hotels «Renaissance» zum Verwechseln ähnlich. Doch mit dem Bundesgerichtsentscheid vom Herbst 2014 war jeder Widerstand zwecklos geworden: Per Ende Juni 2016 mussten die rund 20 Bewohner*innen das Haus räumen. Damit war ein Rechtsstreit, der sich über 15 Jahre hingezogen hatte, definitiv zu Ende. Am 5. August 2016 fuhren die Bagger auf und begannen mit dem Abbruch.

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