«Es ist für die Mädchen das erste Mal, dass sie nicht als Lügnerinnen beschimpft werden»

Interview: Eva Hediger

Das Mädchenhaus Zürich bietet seit 25 Jahren Schutz und eine temporäre Unterkunft für Mädchen und junge Frauen, die Gewalt erleben – sei es in der Familie, bei der Arbeit, in der Schule oder im Freundeskreis. Mit «Gewaltige Geschichten – und das Leben danach» hat die Institution erstmals ein Buch herausgegeben. Darin erzählen sechs ehemalige Bewohnerinnen ihre Lebensgeschichten. Wir haben mit der Geschäftsleiterin Dorothea Hollender gesprochen.

Sechs ehemalige Bewohnerinnen des Mädchenhauses erzählen im Buch ihre Lebensgeschichten. Wer sind diese Frauen?

Sie alle haben zwischen 1997 und 2016 für einige Wochen im Mädchenhaus in Zürich gewohnt. Das Mädchenhaus ist im Vergleich mit ähnlichen Institutionen allerdings relativ wenig bekannt – vor allem ausserhalb des Kanton Zürichs. Für viele Frauen war es motivierend, dass sie mit dem Buch die Bekanntheit des Mädchenhauses steigern können. Wir werden es ab dem nächsten Jahr auch an Schulen, Jugendtreffs und ähnlichen Orten verteilen. Die Erzählerinnen möchten mit ihren Lebensgeschichten den heute von Gewalt betroffenen Mädchen Mut machen.

«Das Leben danach ist nicht nur rosarot.»

Dorothea Hollender

Das Mädchenhaus gibt es seit Mitte der Neunziger. Haben sich die Probleme der Schutz suchenden Mädchen in diesen Jahren verändert?

Anfang der Neunziger hat man in der Schweiz erstmals über sexuelle Gewalt gesprochen. Die Gründerinnen des Mädchenhauses haben darauf reagiert und wollten betroffenen Mädchen Schutz bieten. Heute ist die Zahl dieser Delikte leider noch immer ähnlich hoch, doch auch die psychische Gewalt ist in den Fokus gerückt.

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Wieso?

Weil wir mehr darüber wissen. Die Folgen von Traumata sind viel besser erforscht. Das wirkt sich auch auf das Mädchenhaus aus: Die Aufenthaltsdauer der Mädchen ist kürzer geworden. Wir bemühen uns, effizient und schnell Anschlussmöglichkeiten für sie zu finden. Wir wollen nicht, dass sie sich zu sehr an uns und das Haus gewöhnen – der Abschied soll ja nicht unnötig schwerfallen.

Was ist im Mädchenhaus besonders wichtig?

Wir stellen uns hundert Prozent hinter die Mädchen – wir sind also ganz klar parteiisch. Es ist für die jungen Frauen oft das erste Mal, dass sie nicht als Lügnerinnen beschimpft werden oder man ihnen sagt, dass sie übertreiben. Wir arbeiten während ihrer Zeit im Mädchenhaus auch nicht mit den Eltern zusammen, die jedoch von den Behörden informiert werden. Das betreffende Mädchen soll ganz im Fokus stehen, zumindest für die kurze Zeit, in der es bei uns ist. Es ist auch wichtig, dass es über jeden einzelnen Schritt informiert wird. Es hat die Kontrolle über seine Situation, kann alle Berichte lesen und nimmt an sämtlichen Gesprächen teil. Nach oft jahrelanger Fremdbestimmung ist das sehr wichtig.

«Den Mädchen wird eine Rolle zugeschrieben. Sie haben nichts zu sagen.»

Dorothea Hollender

Haben die Mädchen ähnliche Vorgeschichten?

Die Mädchen kommen aus den unterschiedlichsten Schichten und haben die verschiedensten kulturellen Hintergründe. Sie stammen aber fast ausnahmslos aus Familien, die stark patriarchalisch strukturiert sind. Den Mädchen wird eine Rolle zugeschrieben. Sie haben nichts zu sagen. Während der Kindheit sind sie oft extrem angepasst und fallen kaum auf. In der Pubertät widersetzen sich die Mädchen dann diesen Strukturen und die Lage wird prekär. Ich gehe davon aus, dass nur die mutigsten Mädchen zu uns kommen. Denn sie tun etwas schier Unglaubliches: Sie verlassen ihre Familien. Aber wie die Geschichten im Buch zeigen: Es lohnt sich, aus der Gewaltsituation auszubrechen – auch wenn das Leben nachher nicht nur rosarot sein wird.

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Info

Das Mädchenhaus ist eine stationäre Kriseneinrichtung für junge Frauen zwischen 14 und 20 Jahren, die von psychischer, physischer oder sexueller Gewalt betroffen sind. Im Mädchenhaus, dessen Standort geheim ist, finden die Mädchen Zuflucht und Sicherheit. Das Mädchenhaus kann rund um die Uhr kontaktiert werden. Die Aufnahme erfolgt unbürokratisch. Mehr Infos gibt es hier.

Das Buch «Gewaltige Geschichten – das Leben danach» kann für 18 Franken per Mail bestellt werden.