LGBT-Kolumne

Stolze Selfies

Kolumne: Anna Rosenwasser

Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Im Oktober erzählt die LGBT-Aktivistin und Autorin von der Pride in Zürich und vollen vielen stolzen Selfies mit Jugendlichen. Und sie fragt sich, wie eine Mutter ihrem eigenen Kind verbieten kann, Bilder von der Pride zu posten.

Am warmen Ende dieses unwarmen Sommers war in Zürich endlich wieder die Pride, zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren. (Die Pride wird immer gern «Schwulenparade» genannt, und bei aller Liebe zu Schwulen und Paraden ist das in etwa so präzis, als würde man in einer Symphonie nur zwei bis drei Töne nennen.) Den ganzen Samstag lang kam ich mit Menschen ins Gespräch, darunter mit ganz vielen Jugendlichen, die zum allerallerersten Mal an der Pride waren. Oft fragten sie mich, ob wir gemeinsam ein Foto machen könnten, ein Selfie, und immer sagte ich, ja, klar, und manchmal noch: Ist es okay, wenn ich meinen Arm um deine Schultern lege?

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In den Tagen nach der Pride war mein Posteingang voll von diesen Fotos: Leute, die vor dem Samstag noch Fremde gewesen waren, schickten mir nun Bilder davon, wie wir gemeinsam in eine Handykamera strahlten. Ich hole mir jeweils ihre Erlaubnis ein, diese glücklichen Bilder auf meinem Instagram-Kanal zu teilen. Mit einer jungen Frau sang ich am Abend der Pride sogar Karaoke. (Die Arme. Ich bin ja nicht gerade für meine Bescheidenheit bekannt, aber singen kann ich wirklich gar nicht.)

«Meine Mutter sagt, es dürfen keine Fotos auf den sozialen Medien landen, die mich an der Pride zeigen.»

Nach unserer gemeinsamen Sing-Einlage fragte auch sie mich nach einem gemeinsamen Bild, und zwei Tage später schickte sie es mir zu. Ich sah mir das Bild an, zwei unterschiedlich alte Frauen, in den letzten warmen Sonnenstrahlen des Zürcher Sommers, selbst am Strahlen. Wir sehen auf dem Bild sehr, sehr glücklich aus. «Darf ich das in meiner Insta-Story posten?», fragte ich, und sie antwortete: «Leider nein. Meine Mutter sagt, es dürfen keine Fotos auf den sozialen Medien landen, die mich an der Pride zeigen.» Ich akzeptierte das und antwortete freundlich, dass ich mich darüber freue, dass sie es mir geschickt hat.

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Aber mir blieb auch die Spucke weg: Wir haben 2021, und während wir alle davon reden, wie selbstverständlich es sein sollte, dass Homos heiraten dürfen (dürfen wir jetzt! Yay!), gibt es noch immer Eltern, die ihren Kindern* verbieten, Bilder von sich auf soziale Netzwerke zu stellen, auf denen sie glücklich sind darüber, queer zu sein. In wie vielen Haushalten hängen Fotos von stolzen Kindern: Töchter, die stolz an einem Sportwettkampf teilnehmen. Söhne an Abschlussfeiern. Junge Menschen, die gerade etwas Wichtiges schaffen oder geschafft haben. Sich selbst sein und an einem Anlass teilnehmen, der für Menschenrechte steht: Ist das nicht auch eine Art von Stolz? Eine Pride eben?

Eure Kinder können sich nicht entscheiden, ob sie lesbisch, schwul, bi, hetero, cis oder trans sind. Aber sie können sich entscheiden, ob sie sich selbst sind.

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Warum hängen nicht in mehr Haushalten Fotos von Kindern und Jugendlichen, die glücklich und stolz an einer Pride sind? Mit Trans-Flagge, mit bifarbenem Make-up, mit Regenbogen-Outfit? 

Liebe Eltern und Erziehungsberechtigte: Wir kennen alle die Antwort. Und wir können etwas daran ändern. Eure Kinder können sich nicht entscheiden, ob sie lesbisch, schwul, bi, hetero, cis oder trans sind. Aber sie können sich entscheiden, ob sie sich selbst sind. Und Sie können sich entscheiden, Ihr Kind dabei zu unterstützen.

* Linguistischer Denkanstoss am Rande: Das Wort «Tochter» ist altersunabhängig. Das Wort «Sohn» auch. Warum ist die geschlechtsneutrale Version, nämlich das Wort «Kind», so kindlich? Warum gibt es kein Wort für Tochter/Sohn, das geschlechtsneutral und gleichzeitig erwachsen ist?