LGBT-Kolumne | Menschen & Leben

Heterosexualität ist nur eine Phase

Kolumne: Anna Rosenwasser

Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Dieses Mal fordert die Autorin und LGBT-Aktivistin: Klärt an den Schulen nicht nur über Verhütung, sondern auch über Anziehung auf!

In meiner Freizeit bastle ich ja gerne Memes. Meistens solche, die vom Leben als Frauen liebende Frau berichten. Dabei gibt es Themen, die immer wiederkehren: Dass bei Frauen-Dates keine den ersten Schritt macht. Vorurteile und deplatzierte Sprüche von unwissenden Mitmenschen. Und: die Unsicherheit, ob man lesbisch ist oder bi.

Ehrlich gesagt bin ich immer wieder erstaunt, wie beliebt Witze und Posts darüber sind, dass viele Frauen nicht wissen, ob sie auf mehrere Geschlechter oder nur auf Frauen stehen. Nicht, weil andere sie auslachen würden dafür: Es sind genau diese Frauen selbst, die diese Witze lustig finden. Weil sie sich selbst drin wiederfinden.

Es sind genau diese Frauen, die über die Memes lachen.

Ich erhalte auch nicht selten Fragen in diese Richtung. Kürzlich schrieb mir eine junge Frau. Sie habe sich in eine Freundin verliebt, das Verliebtsein sei gegenseitig. Also eigentlich alles gut. Aber eigentlich sei sie sich nicht ganz sicher, ob sie wirklich auch auf Frauen stehe. «Anna, kann man sich das Bi-Sein einbilden?», fragte sie am Ende ihrer Nachricht.

Ich weiss es nicht. Ich weiss nicht, ob sich diese Person das Bi-Sein einbildet. Ich kenne sie ja schliesslich nicht. Alles, was ich weiss, ist: Anziehung ist keine Einbildung. Anziehung ist real. Sie kann romantisch sein, sexuell, platonisch oder ästhetisch. Du kannst eine Person, die du neu kennengelernt hast, so spannend finden, dass du sie am liebsten täglich treffen möchtest. Du kannst einen Mitmenschen brennend heiss finden und ihn trotzdem nie anrühren wollen. Du kannst mit jemandem Zeit verbringen und dabei eine Mischung aus all diesen Anziehungen fühlen, und manchmal verändert sich diese Mischung mit jedem Tag. Manchmal auch erst nach Jahren, Jahrzehnten.

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Die sexuelle Orientierung kann sich weiterentwickeln.

Leute stellen sich Anziehung immer so statisch vor. Für immer lesbisch. Für immer beste Freundinnen. Für immer unerreichbarer Crush, für immer hetero. Wir lernen nirgends, dass Anziehung und sexuelle Orientierung gar nicht so funktionieren. Sie sind kein Stein, der für immer unverändert rumliegt. Anziehung ist eher ein Fluss, der fliesst und hübsche Kurven bildet und nie derselbe ist. Oder ein Baum, der als winziges Pflänzli riesig werden kann und je nach Phase prächtige Blüten trägt oder karg ist. Die sexuelle Orientierung kann sich im Laufe des Lebens ändern oder weiterentwickeln. Was man für einen Menschen empfindet, auch. Ich wünschte, das würde uns jemand im Aufklärungsunterricht beibringen, statt dass wir immer wieder Kondome über Bananen rollen müssen.

Viele Frauen denken, dass sie auf Männer stehen müssen.

Viele lesbische und bisexuelle Frauen wachsen in einer Welt auf, die von ihnen erwartet, dass sie nur auf Männer stehen. Und manchmal glauben sie dieser Welt, denn manchmal kennen sie all die schönen Alternativen nicht. Es wachsen also viele Frauen auf mit diesem Hetero-Zwang, aus dem sie sich mühsam und oft schmerzhaft selbst befreien müssen. Viele Lesben haben zum Beispiel Beziehungen und Sex mit Männern hinter sich, weil sie davon ausgingen, dass sie keine Wahl haben. Viele erzählen mir davon, dass sie lange davon ausgingen, dass sie einfach Sex nicht so mögen. Dass sie einfach kein Beziehungsmensch sind. Weil ihnen nicht die Möglichkeit zugestanden wurde, dass ihr Sex und ihre Beziehungen etwas anderes als hetero sein könnten.

Statistisch gesehen ist es also häufig, dass man sich das Hetero-Sein einbildet. Das ist etwas ironisch, wenn man bedenkt, dass lesbischen und bisexuellen Frauen sehr oft gesagt wird, es sei «nur eine Phase». Ich mache mich mit dieser Aussage bestimmt nicht überall beliebt, aber: Statistisch gesehen ist eigentlich Heterosexualität die häufigere Phase. Keine Sorge, liebe Queers. Die Phase geht vorüber.

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