Menschen & Leben

«Ich hatte keine Ahnung, ob die Leute überhaupt mitmachen»

Der Fotograf Marco Vannotti hat im vergangenen Sommer im Flussbad Letten über 600 Menschen mit der Kamera porträtiert. Wir haben den Zürcher zum Gespräch getroffen – und zeigen exklusiv eine Auswahl der Fotos.

Du hast im Flussbad Letten von über 600 Menschen Porträtfotos gemacht. Was steckt hinter dem Projekt?

Marco Vannotti: Der obere Letten ist der Ort, wo ich im Sommer baden gehe. Ich kann von zu Hause aus zu Fuss herkommen, lege mein Badetuch auf den Holzliegerost und spaziere zum Einstieg in die Limmat beim Dynamo. Und jedes Mal auf dem Weg durch die Besucher:innen bin ich fasziniert von der Vielfalt der Menschen. Der Ort vibriert und ist ein einzigartiger Schmelztiegel an Stimmen, Kulturen, Gerüchen, Geräuschen und Menschen – ein Abbild der Zusammensetzung der Menschen in Zürich, die hier friedlich zusammenkommen. Diese Vielfalt wollte ich fotografisch festhalten.

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Hast du alle Menschen angesprochen oder den Fokus auf eine bestimmte Gruppe gelegt?

Für mich war das Projekt ein Experiment: Einerseits hatte ich keine Ahnung, ob die Leute überhaupt mitmachen, anderseits musste ich aus meiner Komfortzone treten und dauernd Leute ansprechen. Anfänglich bin ich auf alle Menschen zugegangen – es geht um die Vielfalt, also sind alle willkommen. Natürlich gibt es bestimmte Gruppen, die sich lieber fotografieren lassen als andere. Folglich habe ich im zweiten Teil der Shootings häufiger Personen angesprochen, die weniger extravertiert waren oder sich ungern in Szene setzen, wie beispielsweise Menschen über fünfzig.

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Wie liefen die Shootings ab und wie viele Stunden hast du investiert, bis du die 600 Porträts im Kasten hattest?

Mir war es wichtig, die Leute selbst entscheiden zu lassen, ob und wie sie sich fotografieren lassen wollten. Einige nahmen dadurch ausgefallene Posen ein – was meiner Meinung nach für einen Ort, wo es auch ums Sehen und Gesehenwerden geht, passend und repräsentativ ist. Manchmal gab ich auch Anregungen oder verwickelte die Menschen in ein Gespräch, damit sie sich entspannten. Insgesamt war ich an elf Tagen dort und fotografierte jeweils ca. während drei Stunden. Um das Licht möglichst gut kontrollieren zu können, wählte ich einen bestimmten Standort unterhalb der Kornhausbrücke aus. Das heisst, alle Porträts stammen von ein und demselben Ort. Für die Nachbearbeitung wendete ich pro Shooting zwei bis drei Tage Arbeit auf, da ich allen Teilnehmenden als Gegenleistung ein Foto per E-Mail schickte.

«Das Wunderbare am Projekt waren die Offenheit und die Unbeschwertheit der Menschen.»

Im Flussbad hält man sich eher leicht bekleidet auf. Hat das die Besucher:innen abgehalten, sich für das Shooting zur Verfügung zu stellen?

Das Wunderbare am Projekt waren die Offenheit und die Unbeschwertheit der Menschen. Klar gab es einige, die sich nicht fotografieren lassen wollten. Doch es spielte fast keine Rolle, ob die Menschen in Badekleidung waren oder nicht. Eine gewisse Zurückhaltung, sich fotografieren zu lassen, kam vielmehr davon, sich selbst als nicht fotogen zu erachten. Doch ich sehe in jedem Menschen etwas Einzigartiges und Schönes. Mit dieser Haltung konnte ich selbst denjenigen ein ehrliches, positives Feedback mitgeben, die schliesslich nicht mitmachen wollten.

Du hast sämtliche Personen vor weissem Hintergrund fotografiert. Warum?

Da es mir hauptsächlich um die Menschen dort geht, wollte ich sie aus dem Kontext des oberen Letten rausnehmen und vor einen neutralen Hintergrund stellen. Der weisse Hintergrund repräsentiert für mich die Helligkeit und Frische des Sommers. Zudem erwecke ich dadurch den Eindruck, als wären wir in einem Fotostudio. Dies führt unter Umständen zu Irritation und regt die Betrachter:innen zum Denken an.

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Welche Begegnungen oder Gespräche sind dir am meisten in Erinnerung geblieben?

Es ist die Fülle an Begegnungen, die ich mitnehme. Viele fanden die Idee toll und wollen auch weiterhin über den Fortgang des Projekts informiert werden. Für mich waren die Offenheit und Zugänglichkeit der Menschen die schönste Erfahrung. Alle Begegnungen zeugten von Vertrauen und Wertschätzung.

Gibt es demnächst einen Bildband, oder was planst du mit den Fotos?

Ich plane für nächsten Frühling/Sommer eine Ausstellung sowie eine Publikation in Buchform zu machen – wie das genau aussehen wird, weiss ich noch nicht. Doch nun habe ich Zeit, mir darüber Gedanken zu machen und Projektpartner zu finden. Ich bin offen für kreative Ideen und Vorschläge: Bitte einfach melden!

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Über den Fotografen

Marco Vannotti ist Psychologe und Fotograf. Er absolvierte den Diplomlehrgang für angewandte und künstlerische Fotografie an der Prager Fotoschule in Linz und hatte im Oktober 2020 seine erste Einzelausstellung in Zürich mit Porträts von betagten Menschen («Einsichten»). 2022 veröffentlichte er seinen ersten Bildband («Zwischenstadt»), in welchem er die Randbereiche der Stadt Zürich fotografisch dokumentierte.

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