LGBT-Kolumne | Menschen & Leben

Aladdin oder Jasmin?

Kommentar: Anna Rosenwasser Fotos: Bruno Cervera / Unsplash

Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Im Juni erzählt die Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz von einem Karaoke-Duett, bei dem alle ihre Rollen erst noch finden mussten.

Karaoke singen ist für mich ein bisschen wie Wasabi-Nüsse essen. Ich sehe die Wasabi-Nüsse, denke mir: «Rosenwasser, übertreib es nicht, sonst bereust du’s», und dann übertreibe ich und bereue es. Bei Karaoke ganz ähnlich: Ich gehe an den Anlass und nehme mir vor, zurückhaltend zu sein. Maximal ein Lied, oder keines. Meine Brüder verbreiten vielleicht nicht zu Unrecht das Gerücht, dass unsere Katze vor einigen Jahren an meinem Gesang gestorben sei (RIP Strizzi).

Da war ich also am ersten Abend in diesem Lager, wo mehrere Dutzend queere Menschen ein Wochenende miteinander in einem Häuschen verbringen. Im Keller war Disco. Im Esszimmer lief das Public Viewing einer Homo-Talkshow aus den Neunzigern. Und hier, in diesem Nebenraum mit dem schummrigen Licht, war Karaoke.

Meine Zurückhaltung war vergessen.

Ich sass also da, mit dem Wasabi-Gefühl in mir: Übertreib es nicht. Bleib still. Das kommt nicht gut. Neben mir sass Misch, eine liebe Person, die ich erst seit Kurzem kannte. Misch trug eine schöne Brille – damit hat man mich eigentlich schon –, wusste sich schlau auszudrücken und mich herzig anzuschauen. «Ich würd’ so gern ein Disneylied singen», flüsterte Misch neben mir, während vorne bereits erste Mitmenschen mit Lady Gaga begannen. «DISNEY», flüsterte ich euphorisch zurück, als ob man im Flüsterton schreien könnte, und fortan verhandelten wir den Song. Wasabi galore; meine Zurückhaltung war vergessen. «Kennst du das von Frozen?» – «Ui nein, ich hasse animierte Filme. Was ist mit Mulan?» – «Den Text kann ich so riiichtig überhaupt nicht. Wie wär’s mit Froschkönig?» – «Es gibt eine Disney-Version von Froschkönig?!»

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Irgendwann wurden wir uns dann doch einig. Aladdin sollte es werden, und zwar der bekannteste Song, «A Whole New World». Schliesslich, waren Misch und ich uns einig, war dieses Lager auch eine völlig neue Welt. Wie in meiner Lieblingszeile, als Aladdin singt: «Tell me princess, now when did you last let your heart decide?» Denn wer ausserhalb der Norm aufwächst, muss erst mal checken, wie das eigene Herz denn entscheiden würde. Ganz schön passend, fanden wir. Und stellten uns tapfer vors Publikum.

Misch war das Leben lang für einen Mann gehalten worden, also übernahm Misch den Aladdin-Teil. Es klang etwas rau, Misch war unsicher, stotterte die Worte. Zum Glück kannte ich das Lied gut, wusste, wann Jasmins Teil begann – aber ich hätte mich fast verschluckt, so überrascht war ich von der hohen Oktave, die meine Stimmbänder völlig überforderte. Irgendwo in seinem Grab starb meine Katze wohl gerade ein zweites Mal.

Ganz schön passend, fanden wir.

Wir kämpften uns durch die erste Strophe. Es klang nicht nur mittelmässig, sondern fühlte sich auch unbequem an. Unsere Blicke trafen sich. «He», zischte Misch am Ende seines missratenen Refrains, «mach du mal.» – «Was?!», sagte ich zurück, das Mikrofon senkend – und da nahm sich Misch einfach Jasmins Teil. Es klang so … sinnvoll. Plötzlich fand Misch die Melodie, begann zu lächeln bei der nächsten Strophe … und als ich dran war, entkrampften sich meine Stimmbänder. Aladdins Tonlage passte so viel besser. Endlich konnten wir dieses Duett führen, uns umtänzelnd und vergnügt, endlich stimmte alles.

Weil einem nicht die Erwartung, Prinzessin zu sein, zu einer Prinzessin macht. Weil man erst dann Prinz sein kann, wenn man auch wirklich Prinz sein will. Und weil sich diese Rollen ändern können, entwickeln – und sich irgendwann, da bin ich ganz sicher, gut anfühlen, wenn wir einfach die Freiheit haben, uns für sie zu entscheiden. «Tell me, princess, now when did you last let your heart decide?» Weil man manchmal eben nicht Prinzessin ist, sondern Prinz. Oder umgekehrt.

Dieser Artikel ist nicht gratis.

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