Stadt & Geschichte

«Die Zürcher*innen haben damals ganz anders gelebt»

Interview: Eva Hediger Teaser: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Heinz Baumann

Angelnde Jugendliche, Fabrikarbeiter*innen und erste Revolten: Der Krimiautor und Radiojournalist Raphael Zehnder hat einen Bildband über Zürich in den 1970er Jahren veröffentlicht. Mit uns hat er über das damalige Stadtleben und sein Züri-Weh gesprochen.

Du bist 1981 nach Zürich gezogen. Wie hast du die Stadt damals erlebt?

Zürich war damals gespalten. Die Stimmung war einerseits sehr grau und repressiv, anderseits sehr optimistisch. Die Jugend war aufmüpfig und sehnte sich nach einem Wandel. Das hat mir gefallen. Wie neu die Stadt damals auch für ihre Bewohner*innen war, ist mir erst bei der Arbeit am Bildband aufgefallen: In den 70ern wurden viele grosse Bauprojekte realisiert. Für mich als Neu-Zürcher gab es diese Häuser, Strassen und Brücken aber gefühlt schon immer.

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Sprengung Hochkamine Escher-Wyss  (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich))

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Kies und Lochergut (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Heinz Baumann)

«In den 70ern wurden viele grosse Bauprojekte realisiert.»

Der Bildband «Zürich in den 1970er Jahren» ist kürzlich erschienen. Er beinhaltet rund 400 Archivbilder. Hast du bei der Recherche Überraschungen erlebt?

Es gibt ein Bild von einer alten Frau, die auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Allmend steht. Nur wenige Meter von ihr entfernt wird die Autobahnbrücke gebaut. Ein extremes Bild. Was ich auch gemerkt habe: Die Stadt war in den 70ern gar nicht so brav, wie viele heute denken. Im Gegenteil. Die Jugendlichen legten damals den Grundstein für die kommenden Unruhen.

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Hardau-Türme (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Heinz Baumann)

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Sprayereien Harald Naegeli (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Heinz Baumann)

Die meisten Bilder zeigen gewöhnliche Zürcher*innen. Wie hat sich das Leben in der Stadt verändert?

Es war mir wichtig, kein kitschiges Buch zu machen. Ich wollte zeigen, wie die Zürcher*innen damals gelebt haben – und das ist schon sehr anders als heute. Die Industrie ist ja heute weitgehend aus der Stadt verschwunden. Damals gab es aber noch einige Fabriken in Zürich. Es gab noch Spielsalons. Auch spielte sich das Leben ausschliesslich analog ab. So etwas wie das Internet gab es natürlich noch nicht. Wer neue Musik entdecken wollte, musste in ein Geschäft und sich von den Angestellten beraten lassen. Auch davon gibt es ein Bild im Buch.

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Wo ist die Stadt gleich geblieben?

Die Geografie ist natürlich gleich geblieben. Auch die Sehenswürdigkeiten stehen noch. Und wenn ich durch die Aussenquartiere spaziere, stelle ich fest, dass sich nicht viel geändert hat. Allgemein ist Zürich jedoch viel sauberer und ordentlicher geworden, manchmal vielleicht zu sehr.

Du hast 26 Jahre lang in Zürich gelebt. Wurdest du nostalgisch bei der Recherche?

Nein, nicht unbedingt. Natürlich habe ich mich an Orte und Erlebnisse erinnert. Sie haben aber nicht immer etwas mit Zürich zu tun: Das Titelbild mit den angelnden Jugendlichen könnte meinen Bruder, meine Cousins und mich zeigen: Wir waren damals genauso angezogen. Ich glaube, dass das Buch bei vielen solche Flashbacks auslöst.

«Die Stadt war in den 70ern gar nicht so brav, wie viele heute denken.»

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Altstadt nachts (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Steiner)

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Sexum und Jesum (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Josef Schmid)

Also ist es vor allem ein Buch für jene, welche die 70er miterlebt haben?

Nicht nur, auch wenn diese sich natürlich in die Zeit zurückversetzen können. Aber jüngere Generationen merken mit dem Buch, wie prägend die 70er für Zürich bis heute sind: Das Frauenstimmrecht wurde eingeführt, die Lesben- und Schwulenbewegung machte sich bemerkbar, eine Generation wurde politisiert. Ich denke, dass das heutige liberale Zürich genau in diesem Jahrzehnt seinen Ursprung hat.

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Hippies vor ihren umgebauten Bussen für die Reise nach Kathmandu (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Kurt Schollenberger)

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Demo (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG)

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Plattenladen im Globus an der Löwenstrasse (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Fotograf: Christof Sonderegger)

«Allgemein ist Zürich jedoch viel sauberer und ordentlicher geworden.»

Mittlerweile lebst du in Basel. Hat dich das Züri-Weh nicht gepackt?

Vor allem meine Anfangszeit in Zürich war für mich sehr aufregend. An diese haben mich die Bilder natürlich erinnert. Aber Zürich vermisse ich vor allem dann, wenn jemand wie ich Züritütsch redet – so schön ich den Basler Dialekt auch finde.

Zum Buch

Der Krimiautor und Radiojournalist Raphael Zehnder hat mehr als zwei Jahrzehnte in Zürich gelebt. Jetzt hat er seinen Bildband «Zürich in den 70er Jahren» veröffentlicht. Das Buch ist im Emons Verlag erschienen und 320 Seiten dick.