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Nevin Galmarini: Doppelsieg mit Olympiagold und Zwillingen

Nevin Galmarini ist amtierender Olympiasieger im Snowboard-Parallel-Riesenslalom. Und obwohl er nicht im Bündnerland wohnt, so ist doch da seine Heimat, die er ganz tief im Herzen trägt. Wie er sein Leben zwischen Spitzensport, Studium und Familie managt.

Du bist ein Bündner durch und durch. Aufgewachsen bist Du aber nicht im Bündnerland, sondern in Herisau. Wie bist Du ins Engadin gekommen?

Als ich 13 Jahre alt war, sind wir mit der ganzen Familie nach Ardez gezogen. Dies, weil ich und mein Bruder nach Ftan ins Sportgymnasium gewechselt sind. In Herisau habe ich den ersten Teil meiner Kindheit verbracht, den viel wichtigeren Teil aber habe ich im Unterengadin erlebt. Deswegen fühle ich mich wohl auch voll und ganz als Engadiner.

Wie war das für Deine Eltern und Deine Schwester?

Unsere Eltern wollten uns die bestmögliche Ausbildung ermöglichen. Und hier hatten wir die Möglichkeit das Gymi mit dem Sport zu verbinden. Es ist aber nicht so, dass es ein Opfer für sie gewesen wäre. Min Vater hatte vom Job her die Möglichkeit, auch im Engadin zu arbeiten, meine Schwester war im Kindergarten. Wir waren viel hier im Urlaub und es war demnach wirklich ein Herzensumzug. Wir sind von der Kleinstadt in eine Randregion gezogen – und es war für uns absolut perfekt.

Hast Du Dich schnell eingelebt?

Ich habe mich sehr gefreut ins Engadin zu ziehen und habe mich sofort wohlgefühlt. Aber es war auch speziell. Denn ich musste ja eine neue Sprache lernen. Zwei Jahre habe ich gebraucht, bis ich Romanisch sprechen konnte. Die Integration war demnach nicht nur einfach. Anfangs hatte ich mehr mit den "Internen" Kontakt, sprich mit den Jugendlichen, die im Internat zuhause waren. Das, obwohl ich selbst ja ein "Externer" war, weil ich ja hier wohnte. Nach zwei Jahren hat sich dann mein Kollegenkreis verschoben – ich war angekommen. Wenn auch man noch heute meinem furchtbaren Akzent anhört, dass ich ursprünglich nicht von hier bin.

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Romanisch war die dritte Sprache, die Du gelernt hast – nach Deutsch und der Gebärdensprache. Denn Deine Eltern sind beide gehörlos. Erzähl!

Genau, meine Eltern sind gehörlos. Wir haben zuhause also in Gebärdensprache kommuniziert. Das war für uns aber einfach ganz normal. Sprich ich musste diese Sprache nicht aktiv lernen, sondern habe sie – wie ein anderes Kind eine Zweitsprache – mit auf den Weg bekommen.

War es denn einschränkend für Dich gehörlose Eltern zu haben?

Überhaupt nicht. Das Problem bei den Gehörlosen ist zudem eigentlich nicht das Nicht-hören. Das grösste Problem ist, dass du immer ausgeschlossen bist. Weil wir Hörenden bekommen vieles ja am Rande mit, schnappen Gesprächsfetzen auf. Das kannst Du als gehörloser Mensch nicht, sprich die Integration ist oft schwierig. Heute versuche ich auch meinen Kindern ein wenig dieser Sprache mit auf den Weg zu geben. Und was wir vor allem wichtig ist: Ich möchte ihnen zeigen, dass es wichtig ist, mit allen Menschen einen unkomplizierten und hemmungslosen Umgang zu pflegen.

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«Wenn ich über den Flüelapass ins Engadin fahre, dann stellt es sich ein: die Ruhe, das Vertraute.»

Zurück zum Bündnerland: Was liebst Du hier besonders?

Es ist schwierig in Worte zu fassen. Wenn ich hier bin und morgens aufstehe, dann weiss ich sofort: Ich bin im Engadin. Ich rieche es. Es ist diese trockene, klare Luft. Und dann ist da dieses Gefühl. Wenn ich über den Flüelapass ins Engadin fahre, dann stellt es sich ein: die Ruhe, das Vertraute.

Gibt es auch etwas, was Du hier nicht so magst?

Die Leute sind bodenständig und anständig – das ist mega cool. Sie sind in dieser Hinsicht für mich alles Vorbilder. Zudem sind sie zufrieden. In den Bergen hast du manchmal ein bisschen weniger, hast also nicht endlose Auswahl. Aber du hast eben genau diese Berge. Sie sind da. Sie sind immer gleich. Ich glaube daher rührt auch diese Zufriedenheit.
Gleichzeitig sind die Menschen nicht immer ganz so experimentierfreudig und offen gegenüber Neuem. Aber auch das ändert sich langsam aber sicher. Denn viele Leute, die hier aufgewachsen sind, gehen aus Studium- und/oder Karrieregründen für eine Zeit ins Unterland. Wenn sie eine Familie gründen, zieht es einige zurück nach Hause. Die Offenheit und das Verständnis für eine multikulturelle Welt bringen sie dann mit zurück.

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Was bedeutet Dir die Natur?

Alles. Ich habe einige Jahre in Zürich gewohnt. Und das war zu der Zeit genau richtig. Aber ich wusste immer, dass die Stadt nicht für ewig meins sein wird. Ich brauche die Natur als Ort der Erholung – und zwar für den Kopf. Wenn ich zum Beispiel biken gehe, dann komme ich körperlich völlig ausgelaugt zurück, aber im Kopf bin ich völlig erholt. Manchmal mache ich Touren, da sehe ich den ganzen Tag keine Menschenseele. Es ist wunderbar, dass es solche Orte noch gibt. Orte der unberührten Natur, ohne Handyempfang, ohne nichts. Da fühle ich mich dann so "real".

Versuchst Du im Einklang mit der Natur zu leben?

Es gibt für mich in dieser Diskussion zwei Ebenen. Die globale und die regionale. Auf globaler Ebene versuche ich meinen Beitrag zu leisten. Aber ich finde auch, dass es eine grosse Herausforderung ist. Es ist ein solch grosses, komplexes Gerüst. Ich fliege beispielsweise für den Sport ja um die halbe Welt – aber was soll ich tun? It's a part of the game. Ich will mithelfen, aber manchmal habe ich das Gefühl, das alles was man tut, nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist. Die regionale Ebene ist einfacher. Sie ist nah – nahbar. Jeder Einheimische weiss hier im Engadin genau: Wir müssen einen Mix finden. Der Tourismus zum Beispiel ist wichtig für die Region. Wir sind stolz auf das Engadin und zeigen es gerne. Der Tourismus ist wirtschaftlich ein wichtiger Zweig. Damit dies aber langfristig funktioniert, müssen wir der Gegend Sorge tragen. Es braucht zum Beispiel Wildschutzzonen. Diese werden ganz streng einhalten. Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Wir sind hier alle sehr vernetzt, kennen einander – der gegenseitige Respekt ist gross. Das ist genau auch das, was ich meinen Kindern mit auf den Weg geben will: Respekt.

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«Ich war im Training und sass gerade auf dem Sessellift in Davos. Auf einmal ruft Nadja an und sagt: 'Es sind zwei!'»

Gemeinsam mit Deiner Frau und Euren beiden Kindern lebt Ihr nicht im Engadin, sondern im Kanton Solothurn. Wie kommt's?

Nadja ist hier aufgewachsen und hier sehr gut vernetzt. Als wir erfahren haben, dass wir Eltern von Zwillingen werden, mussten wir uns überlegen, wie wir uns in Zukunft organisieren. Wir wohnten damals in Zürich. Wäre es ein Kind geworden, hätten wir uns da oder auch im Engadin organisieren können, aber mit Zwillingen? Wir haben also entschieden ins Solothurnische zu ziehen, gleich ins Nachbarshaus von Nadjas Eltern. Ich bin viel unterwegs und empfinde es als sehr angenehm zu wissen, dass Nadja nicht alleine ist. Nadja Eltern arbeiten beide noch 100%, sie haben also keinen fixen Tag, an dem sie die Kinder hüten. Wir teilen uns die Betreuung untereinander und in Kombination mit der KiTa auf.

Ein Kind verändert ein Leben schon sehr, wenn da gleich zwei auf einmal kommen, noch mehr? Wie war’s?

Ich weiss noch genau, als ich es erfahren habe. Ich war im Training und sass gerade auf dem Sessellift in Davos. Meine Kollegen wussten nicht, dass ich Papi werde. Auf einmal ruft Nadja an und sagt: «Es sind zwei!». Ich konnte mir ja nichts anmerken lassen und habe nur gesagt: «Ah ja, ok. Ich rufe dich zurück.» Ich habe mich so gefreut. Oben angekommen bin ich ausgestiegen, ein wenig abseits in den Tiefschnee gefahren und habe sie zurückgerufen. Wir waren beide so happy.

Wolltet Ihr schon immer Kinder?

Nadja hat das Thema schon nach ganz kurzer Zeit in der Beziehung angesprochen. Ich finde das auch richtig. Denn wenn jemand weiss, er will unbedingt einmal eine Familie und für den anderen ist es nicht vorstellbar, dann wird das irgendwann sehr schwierig und führt oft zu Streit und Trennung. Ich wusste aber auch, dass ich mal Kinder haben wollte.

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Und dann kam der Moment, wo Ihr wusstet: Es ist Zeit?

Ja und nein. Ich hatte schlicht keine Ahnung von der ganzen Sache. Irgendwie hatte ich die Vorstellung, dass wir dann mit der Verhütung aufhören und sie wird schwanger. Aber so war es nicht. Wir haben lange probiert, waren beim Arzt, haben uns beraten lassen. Als Nadja dann schliesslich schwanger war, galt die Schwangerschaft als Risiko.

Wieso?

Nadja war 37, Punkt Nummer 1. Und der Fakt, der Zwillingsschwangerschaft galt als zusätzliches Risiko. Der Arzt hat uns dann gesagt, wir sollen überlegen, ob wir auf ein Baby reduzieren möchten. Innerlich war uns aber beiden klar, dass eine Reduktion auf ein Baby gar nicht in Frage kommt, für uns waren Zwillinge ein grosses Glück. Aber klar, man macht sich dann seine Gedanken, wenn ein Arzt das so sagt.

Wie ging es weiter?

Für mich war es wichtig, die Fakten abzuchecken, zu wissen, welches Risiko wirklich besteht. Wir haben also Infos eingeholt und für uns beide war klar: Wir behalten beide, wir gehen dieses Risiko ein.

«Klar, war es immer wieder eine Enttäuschung, wenn wieder ein Monat vorbei war und es wieder nicht geklappt hatte.»

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War das für Euch als Paar eine Bewährungsprobe – auch die Zeit, in der Nadja nicht schwanger wurde?

Klar, war es immer wieder eine Enttäuschung, wenn wieder ein Monat vorbei war und es wieder nicht geklappt hatte. Für mich hätte der Zeitpunkt, wann wir Kinder kriegen, auch später sein können. Aber Nadja ist fünf Jahre älter als ich und sie hatte diesen starken Wunsch. Und mir war ja klar: Ich will mit ihr zusammen sein. Und wenn ich Kinder will, dann mit ihr. Wir sind da als Paar durch, es war keine Belastung für die Beziehung, es hat sie eher gestärkt.

Einige Monate vor der Geburt der Zwillinge hast Du Olympisches Gold gewonnen. Wie hast Du Olympia erlebt?

Mein Fokus lag zu 100% auf den Olympischen Spielen. Da bin ich ein absolut egoistischer Sportler. Nadja hat mich so kennengelernt und sie hat in der Sportwelt gearbeitet, sie weiss also wie es ist. Dass sie schwanger war und ich nicht zuhause hat weder mich noch sie belastet. Eher das Gegenteil war der Fall. Denn ich wusste: nach diesem Grossanlass bekommt mein Leben einen zusätzlichen Fokus.

Der Gedanke ans Papi-werden hat Dich also beruhigt?

Olympia ist ein grosser Druck. Du trainierst monate-, ja jahrelang, auf diesen einen Wettkampf. Und Du fragst Dich: Was denken die Leute? Was die Sponsoren? Was schreibt die Presse? Wenn Du gleichzeitig aber weisst, Du wirst Vater, dann wird das alles ein klein bisschen unwichtiger. Ich will damit nicht sagen, dass ich weniger ehrgeizig war – bei weitem nicht. Aber die absolute Spitze des Drucks und der Nervosität nimmt ab.

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«Ich möchte meinen Kindern nichts aufzwingen. Aber ich möchte ihnen aufzeigen, dass im Leben vieles möglich ist, wenn man will.»

Du hast Olympia Silber und Olympia Gold gewonnen, hast eine Bronze-Medaille der Weltmeisterschaft und hast etliche Erfolge im Weltcup gefeiert. Trotzdem sagst Du von Dir selbst, Du seist nicht talentiert. Wie kommt's?

Das mit dem Talent ist so eine Sache. Wenn ich mit jungen Nachwuchssportlern rede, sage ich immer: Vergiss das Talent. Die Frage ist: Hast du Freude und hast du ein Ziel? Und ja es ist richtig, ich hatte immer das Gefühl, nicht so talentiert zu sein. Bei den Kindern- und Jugendkategorien hatte ich keine Chance. Erst am Schluss des Sportgymis war ich dann bei den vorderen drei, vier mit dabei. Was ich daraus gelernt habe? Dass ich dann gut bin und besser werde, wenn ich trainiere. Schlussendlich ist es so, dass an der Weltspitze nur noch die besten sind. Dann macht den Unterschied aus, wie du arbeitest und wie du dich verbesserst.

Es braucht also Disziplin. Ist das auch etwas, was Du Deinen Kindern beibringen möchtest?

Ich möchte meinen Kindern nichts aufzwingen. Aber ich möchte ihnen aufzeigen, dass im Leben vieles möglich ist, wenn man will. Dass man fast aller erreichen kann, wenn man gewillt ist, dafür zu arbeiten. Ich bin zum Beispiel bloss 1,71 Meter gross – keine optimale Grösse für einen Snowboarder. Hätte ich aber immer auf die anderen gehört, die gesagt haben, dass es nicht geht, dann wäre ich heute nicht da, wo ich bin.

Was nimmst Du aus der Sportwelt in die Familienwelt rüber?

Als Athlet lernst du, in Drucksituationen mit Stress weiterhin zu funktionieren. Du lernst in eine Metaebene zu gehen. Wenn ich etwa sehr nervös bin, kann ich sehr gut analysieren, warum ich so reagiere. Dann weiss ich, welche Werkzeuge ich habe, um mich runterzuholen. Auch mit den Kindern gibt es viele Stresssituationen. Da kann ich dann diese mentale Kontrolle gut einsetzen.

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Nach der Geburt der Zwillinge hast Du Dich dann verletzt. Kamen da auch Existenzängste auf?

Nein. Denn einerseits habe und hatte ich schon immer gute Sponsoren. Und andererseits habe ich keine Angst vor der zweiten Karriere. Irgendwann höre ich auf zu snowboarden – eher bald als in zehn Jahren. Neben meiner Karriere als Sportler studiere ich Wirtschaft. Zum Zeitpunkt der Verletzung hatte ich bereits den Bachelor in der Tasche. Ich habe eine optimistische Art. Ich wusste, dass ich auch neben dem Sport etwas finden werde, dass mir Spass macht.

Was sind denn die kommenden Meilensteine für Nevin?

Sportlich ist es ganz klar der Winter 2022 und die dann stattfindenden Olympischen Spiele. Da will ich meine Goldmedaille verteidigen. Das ist mein ganz klares Ziel.
Parallel dazu muss ich im Dezember meine Masterthesis abgeben, um meinen Titel als Master of Science in Business Administration mit Vertiefung in Innovation Management zu erlangen.

Und langfristig?

Ich würde sehr gerne im Sportbereich arbeiten. Ich will aber nicht Trainer sein. Ich möchte nicht mein Athletenleben als Coach weiterleben. Aber es gibt da so viele Möglichkeiten im Bereich Management, Weiterentwicklung, Digitalisierung in Verbindung mit dem Sport. Ich habe ein grosses und gutes Netzwerk in der Sportwelt. Und der Vibe da gefällt mir. Ich freue mich sehr darauf. Und ich empfinde es als Riesengeschenk, dass ich eine zweite Karriere beginnen darf.

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