LGBT-Kolumne | Menschen & Leben

Zu erwachsen für Wangenküsse

Kolumne: Anna Rosenwasser

Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Dieses Mal erzählt die LGBT-Aktivistin und Autorin von einem Abend in einer lauten Metal-Bar. Und sie erklärt, warum wir endlich Nähe zwischen Freunden zulassen sollten anstatt diese nur zu spielen. 

Dani und ich kennen uns aus Netlog-Zeiten, also etwa seit anno 1982. Im Gegensatz zu den meisten meiner heutigen Freund*innen kenne ich ihn also nicht aus einem queeren Kontext. Natürlich findet Dani Queers easy, aber seine Welt ist eine andere. Eine, in der ich früher hie und da auch abhing und die ich heutzutage ungefähr einmal im Jahr streife, jeweils an seinem Geburtstag. Wir sitzen letztens also so da, in einer Metal-Bar, Dani und zwei Handvoll seiner Freund*innen. Wir stossen an auf seinen Geburtstag, sie mit Bier, ich mit Tee, sie in Schwarz, ich in Pastell.

Dani mag vieles, Bier und hässige Musik und flache Witze, und er mag auch: Wangenküsse. Dani ist ein Wangenküsse-Top und ein Wangenküsse-Bottom, also eigentlich ein Wangenküsschen-Vers (diesen Witz werde ich ihm wohl erklären müssen). Er mag Wangenküsse so, wie viele Leute Umarmungen mögen.

Als wären wir nur ein Haufen Kinder, die gerade ein Spiel namens Nähe spielen.

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Dani sitzt neben Elias – beide lange Headbang-Haare, düsteres Shirt, undüsteres Gemüt – und kündigt einen Wangenkuss an, ein bisschen wie einen Witz. Elias stimmt zu, auch wie eine Pointe, also gibt Dani ihm einen Wangenkuss. Aber: Irgendwie ist das alles ein Joke. Dani tut, als wärs ein Joke, Elias tut, als wärs ein Joke, unsere Gruppe tut, als wärs ein Joke. Als wären wir nur ein Haufen Kinder, die gerade ein Spiel namens Nähe spielen, anstatt ein Tisch voller Erwachsener, die sich genuin gernhaben.

«Gestern hat wirklich gutgetan, aber ich sollte aufhören, Menschen auf die Wange zu küssen, wenn ich sie mag», grummelt Dani am nächsten Tag verkatert, semi-ironisch. Die Aussage klingt ein bisschen, als hätte er etwas falsch gemacht – dabei hat die Situation auf mich gewirkt, als wären alle Involvierten sehr einverstanden gewesen. Nur, dass wir alle so taten, als wärs ein Witz gewesen. Die Kinder spielten Nähe, giggelten darüber, und dann ist das Spiel vorbei.

Und dann? Wenn wir Nähe nur spielen, als Witz, als Pointe, was ist dann Ernst? Freundschaften ohne Nähe? Kumpels, die Wangenküsse schön fänden, ihnen aber fernbleiben? Ich weiss, das klingt alles trivial. Es geht ja bloss um Baggechüssli. Aber es geht vielleicht auch um etwas anderes: darum, wer Zuneigung ausdrücken darf. Vielleicht sogar darum, welchem Geschlecht liebevolles Verhalten in Freundschaften erlaubt wird, und zwar eben nicht nur ironisch, sondern in echt. Während es als normal gilt, dass Frauen sich freundschaftlich berühren dürfen, zum Beispiel Händchen halten oder kuscheln, sieht es bei Männern – insbesondere heterosexuellen Männern – oft anders aus. Als hätten heterosexuelle Männer kein Bedürfnis nach freundschaftlicher Nähe.

Nicht einfach das Fehlen von Sex, sondern das Fehlen von Berührungen mit Menschen, die wir gernhaben.

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Die meisten von uns hatten schon Phasen im Leben, in denen wir spüren mussten, was Nähe-Entzug mit uns macht. Eben nicht einfach das Fehlen von Sex, sondern das Fehlen von Berührungen mit Menschen, die wir gernhaben: streicheln, kuscheln, massieren, kraulen. Wir wachsen in einer Welt auf, die manchmal so tut, als könne das alles nicht genauso Teil sein von Freundschaften. Was, wenn wir in einer Kultur leben, die uns die Berührungen, die wir mögen könnten, gar nicht richtig beibringt?

Dann müssen wir es uns selbst beibringen. Lernen, welche Berührungen wir mögen in Freundschaften, und rausfinden, welche unserer Freund*innen ähnlich ticken. Und das dann ernstnehmen, nicht ironisch, sondern mega mega mega ernst. Und dann verteilen wir die ernstesten Wangenküsse, die je in einer Metal-Bar gegeben wurden.