Endstation

Holzerhurd – von irgendwo nach nirgendwo

Hier bei der Endstation des 32er-Busses wohnt die 81-jährige Ursula Züst mit ihrem Mann in einem 18-stöckigen Hochhaus. Holzerhurd ist eine jener Haltestellen, die jedem Zürcher bekannt vorkommen, zu denen sich die wenigsten aber je hinverloren haben. Was steckt hinter dem Ort, dem ein ganzes Musikalbum gewidmet wurde?

Sie prangen prominent über der Nase von Tram und Bus, leuchten richtungsweisend von den Anzeigetafeln: die Namen der Endhaltestellen. Diese Orte verbinden Zürcher und Zugezogene mit Nummern und Farben. In der jahrzehntelangen Wahrnehmung der Passagiere sind sie längst zu einem Bild geworden.

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«Junkie-Express» wird der Bus salopp auch genannt, weil er durch das Rotlichtviertel mit den Drogen und den Partys ächzt.

Holzerhurd ist die Endhaltestelle der berühmten Buslinie 32, die beim Strassenverkehrsamt im Süden beginnt und im Norden in Zürich-Affoltern endet – oder eine Reise von «irgendwo nach nirgendwo», wie es ein Autor einst formulierte. «Junkie-Express» wird der Bus salopp auch genannt, weil er durch die Langstrasse und damit durch das Rotlichtviertel mit den Drogen und den Partys ächzt. Im letzten Abschnitt der Langstrasse vor dem Limmatplatz gibt es keine Busspur, sodass man in Stosszeiten neben dem Bus herschlendern kann und dabei oft sogar schneller ist.

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Vor der Ausfahrt stadtauswärts Richtung Regensdorf, zwischen Wehntalerstrasse und Furttalerstrasse, liegt am Ende Holzerhurd – Im Holzerhurd, um genau zu sein. In den Geschichtsbüchern findet man 1543 für dieses Gebiet die Bezeichnung «Holzerwiss». Erwähnt ist ein Mann mit dem Namen Holzer. Die Hurde ist ein geflochtener Zaun.

«In Holzerhurd gibt es nichts», bemerken die Anwohner nicht unzufrieden und mit einem Lächeln.

An einem Buswendeplatz beginnt der Ort, der im Grunde genommen eine Siedlung ist. Eine Pfostenreihe versperrt die Zufahrt für Autos. Steht man vor der Siedlung, wirkt sie mit ihren kühlen Blöcken aus den 1960er-Jahren wie eine Banlieue. Neben den Hochhäusern stehen funktionale Wohnhäuser und nüchterne Reiheneinfamilienhäuser. Holzerhurd wurde von zwei Baugenossenschaften geplant, die Wohnraum für Familien und Rentner zu einem bezahlbaren Preis schaffen wollten. «In Holzerhurd gibt es nichts», bemerken die Anwohner nicht unzufrieden und mit einem Lächeln. Herr Züst, einer von ihnen, nennt die Siedlung eine «Schlafstadt».

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Das Ehepaar Züst wohnt seit Jahrzehnten im Holzerhurd.

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Um die Gebäude zu isolieren, wurden an den Fassaden Platten angebracht, welche die Spätsommersonne auf die kleine Holzerhurdstrasse zurückwerfen. Die Strasse wirkt wie ein Bach, der vom kleinen Hügel hinunter durch den Ort fliesst.

Frau und Fräulein Kern – wie sie ausschliesslich gerufen werden durften – hoben und senkten die Barriere vollamtlich von Hand.

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Wie Herr Züst zu berichten weiss, hatte Holzerhurd bis Mitte der Achtzigerjahre keine eigene Haltestelle; die Linie 32 endete am Bucheggplatz. Von dort fuhr die Linie 74 weiter nach Hungerbergstrasse, der damaligen Endstation. Am heutigen Wendeplatz habe wegen der Zuggeleise ein Barrierehäuschen gestanden, so Züst. Eine Mutter und ihre Tochter – Frau und Fräulein Kern, wie sie ausschliesslich gerufen werden durften – hoben und senkten die Barriere vollamtlich von Hand. Das pünktliche Bedienen sei auch schon einmal vergessen gegangen, will Herr Züst wissen. Frau Züst hat das anders in Erinnerung. «Das Häuschen mit Gärtchen war schön geschmückt mit Blumen», erzählen die beiden. Bis zur Gleiserweiterung und der Inbetriebnahme der neuen Bushaltestelle sei es in Funktion gewesen.

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Es passiere immer wieder, dass sich ein «Randständiger» an die Endstation verliere, weil er den Ausstieg an der Langstrasse verschlafen habe.

An der Endhaltestelle der Linie 32 in Holzerhurd stehen immer zwei Busse bereit. Die Station dient als Pufferzone, um Verspätungen auszugleichen, welche insbesondere im Raum Langstrasse entstehen. Es passiere auch immer wieder, dass sich ein «Randständiger», wie es Frau Züst nennt, an die Endstation verliere, weil er den Ausstieg an der Langstrasse verpasst oder verschlafen habe. Vor allem bei grossen Stadtfesten komme das vor. Die Busfahrer würden diese Passagiere weiterschlafen lassen, sofern sie keinen «Radau» machten.

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Am Wendeplatz führt ein Bauer eine Kuh an einem Hochhaus vorbei. Im Schatten eines anderen Hochhauses schläft ein Fussballplatz, hinter dem Tor grenzt eine Holzwand die Siedlung von den Zuggeleisen ab, die gleichzeitig als Lärmschutz dient für den Bau des Gubristtunnels dahinter. Und im Zentrum von Holzerhurd steht die Seele der Siedlung: der Pavillon. Er ist neben der Gemeinschaftswaschküche der einzige Ort, wo die Anwohner zusammenkommen. Beim «Holzifest» etwa trifft man sich hier zu Kaffee und Kuchen. Gerahmte Fotografien an den Wänden berichten vom Bau der Insel Holzerhurd.

Holzerhurd ist kein funktionaler Unort, weil die Bewohner nahe dem Katzensee eine Heimat gefunden haben, die sie nicht missen wollen.

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Auch wenn Holzerhurd von aussen betrachtet als humorloser und funktionaler Unort gesehen werden könnte, ist er es nicht, weil die Bewohnerinnen und Bewohner nahe dem Katzensee am Fuss des Hönggerbergs eine Heimat gefunden haben, die sie nicht missen wollen.

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Vielleicht weil die Busse den Namen dieses unspektakulären Holzerhurd jeden Tag und jede Nacht durch die so gegensätzliche Langstrasse tragen, hat «Sein» – in meinen Augen eine der besten Zürcher Bands – dieser Insel am Stadtrand ein ganzes Album gewidmet.

Adresse

Im Holzerhurd
8046 Zürich

Infos

Die Reisezeit des 32er-Busses vom Strassenverkehrsamt bis nach Holzerhurd dauert ungefähr 35 Minuten. Zum Fahrplan geht's hier.