Stadt & Geschichte

Wilde Tiere, wilde Strafen und wilde Casinonächte

Text: Lothar Lechner Bazzanella Fotos: Baugeschichtliches Archiv ETH

Burggraben, Hirschengraben, Seilergraben. Die Geschichte der ehemaligen Verteidigungsanlage ist kurios. Ursprünglich sollte der Graben Feinde abwehren. Dann grasten zweihundert Jahre lang Hirsche darin.

Heute donnern an dieser Stelle Autos und Trams über die Strassen, die vom Kunsthaus bis zum Central führen. Vor wenigen Hundert Jahren hingegen war hier am Hirschengraben aber noch genau das, was der Name schon sagt: ein Graben. Der mehrere Meter tiefe und breite Graben – der im 13. Jahrhundert noch «Burggraben zu des Schettelis Turm» oder «Burggraben ze Niumargte» genannt wurde – reichte vom heutigen Central bis zur Kreuzung Torgasse und Oberdorfstrasse. Er lag vor den östlichen Stadtmauern und sollte unwillkommene Gäste abhalten. Erstmals erwähnt wird der Graben 1335 im Zusammenhang mit einer Erweiterung des Marktplatzes.

Hirsche grasten zweihundert Jahre lang in der Stadt.

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Weil Zürich über die Jahre immer grösser wurde und immer mehr Menschen hierher zogen, musste die Verwaltung den Viehtrieb innerhalb des Stadtgebiets einschränken. Kühe, Schweine, Schafe und Hühner durften immer seltener in die grünen Stadtgräben. 1527 wurden sie schliesslich definitiv auf die Felder vor die Stadttore verbannt. Doch was sollte man denn nun mit dem Stadtgraben anfangen? Man entschied sich dafür, die Haus- und Nutztiere gegen Dutzende Hirsche einzutauschen.

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Erste schriftliche Dokumente, die das Jagen von Wild im Stadtgraben belegen, stammen aus dem Jahr 1529. Wildhüter fütterten die Tiere und säuberten die Gräben. Die weidenden Hirsche lockten Besucher*innen und Schaulustige an. So wurde über die Jahrhunderte aus dem Stadtgraben der Hirschengraben – eine Bezeichnung, die es bis in unsere Zeit geschafft hat.

Bei einem Brand kamen Hirsche zu Tode.

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Am 13. September 1744 brannte eines der Hirschenhäuschen vollständig nieder, beim Brand kamen auch mehrere Hirsche zu Tode. Laut Überlieferung soll der Jugendliche Beat Froschauer das Häuschen während des Morgengottesdienstes in Brand gesteckt haben. Ob er dies absichtlich getan hatte oder ob es ein Versehen war, geht aus den Quellen nicht hervor. Schriftlich dokumentiert ist hingegen die drastische Strafe für Froschauer: Er wurde kurzerhand enthauptet. Das Häuschen wurde wieder aufgebaut und bis ins Jahr 1774 durften die Hirsche im Graben weiden. Dann mussten sie endgültig den Plänen der Stadtverwaltung weichen.

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Teile des Hirschengrabens erhalten einen neuen Namen.

Um das Jahr 1780 wurden Teile des Hirschengrabens eingeebnet. Vom Niederdorf bis zum Neumarkttor entstand so ein neues Areal, das an die Zunft der Seiler ging. Hier eröffneten sie ihre Läden und Magazine und boten ihre Dienste und Waren zum Verkauf an. So geschah es, dass der äussere, höher gelegene Teil des unteren Grabens den Namen Hirschengraben behielt, während der innere, tiefer gelegene Teil über die Jahre einen neuen Namen bekam: Seilergraben.

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Während im Seilergraben lange Zeit vor allem gearbeitet und gehandelt wurde, diente der Hirschengraben angenehmerem Zeitvertreib. 1790 wurden die Ringmauer und der Wolfs- oder Schrätteliturm abgetragen. Mit dem ganzen Schutt und Steinen wurden erneut grosse Teile des ehemaligen Grabens aufgefüllt und eingeebnet. So entstand eine grüne Promenade mit Allee, die vom Kronentor beim Neumarkt bis zum Lindentor beim Eingang zur Kirchgasse führte. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden am Hirschengraben zum Beispiel Jahrmärkte, Umzüge und Feste abgehalten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden an den Seiten des Grabens Stützmauern angebracht. Massive Steinwände sorgten dafür, dass hier nun auch grössere Verkehrsmittel fahren konnten.

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Am Hirschengraben eröffnet ein Casino.

1806 erwarb die Assemblee-Gesellschaft am oberen Hirschengraben einen Teil des ehemaligen Barfüsserklosters, das hier ab 1283 stand. Für 40’000 Franken wurde dieser Gebäudeteil zuerst teilweise abgetragen und dann in streng klassizistischem Stil neu errichtet. Aus den Räumlichkeiten entstand etwas, das mit dem ehemaligen Kloster sehr wenig zu tun hatte: ein Casino. Fast 70 Jahre lang konnte man hier sein Spielglück versuchen.

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Als der deutsche Schriftsteller, Mediziner und Revolutionär Georg Büchner sich 1837 in Zürich aufhielt, schrieb er in einem Brief an seine Verlobte: «Jeden Abend sitz ich ein oder zwei Stunden im Casino. Du kennst meine Vorliebe für schöne Säle, Lichter und Menschen um mich.» 1874 kaufte die Stadt das Casino und baute es wiederum zu etwas vollkommen anderem um: zum Obergericht der Stadt, das heute noch seinen Standort hier am Hirschengraben hat.

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