Essen & Trinken | In der Beiz

Vom Pimmel-Reh bis zum Sorbet mit Champagner

Kolumne: Hans Georg «HG» Hildebrandt Fotos: Eva Kurz, Tina Sturzenegger

In einer Zürcher Galerie servierte die Köchin und Künstlerin Sandra Knecht unserem Gastro-Kolumnisten Hans Georg «HG» Hildebrandt einen besonderen Mehrgänger: Jeder Teller war einer anderen starken Frau gewidmet. Das inspirierte Hans Georg zu mehr Mut in der Küche.

Ich lernte Sandra Knecht kennen, als sie im Kaufleuten ein ganzes Rind vakuumierte und Teile davon zubereitete. Die Kunstaktion war gesponsert von Betty Bossi, die seinerzeit ein Sous-vide-Gerät lancierte und mit einer aufsehenerregenden Aktion darauf aufmerksam machen wollte. Damals war Sandra noch in Basel stationiert, wo sie auf einem zwischengenutzten Areal ihr Restaurant Chnächt führte. Es lohnt sich, Sandras Biografie nachzulesen; hier will ich kurz darauf eingehen, was Sandra im Rahmen ihrer Chnächtässe in der Galerie Witschi kochte.

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Das Konzept des Abends lautete «Zehn Frauen, zehn Gänge». Sandra Knecht widmete jeden Gang einer Frau, von der sie im Lauf ihres Lebens beeinflusst worden war. Sie habe versucht, sich buchstäblich jeweils den Geschmack auszudenken, den diese Person verkörpere, führte Knecht in der Vorrede zum zehngängigen Essen aus. Das Dinner war dementsprechend kein Gelage, sondern eine dreistündige Reflexion über Künstlerinnen und ihre Rolle in unserer Kultur.

Jeder Gang war einer anderen Frau gewidmet.

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Es war auch aussergewöhnlich, weil abgesehen von einem einzigen Bier kein Alkohol zu den einzelnen Gängen gereicht wurde – was die Sache verträglicher machte als so manches experimentelle (oder hochkulinarische) Essen, an dem ich schon teilgenommen habe. Darüber hinaus schmeckten die Gänge wirklich gut, denn Sandra ist eine mit allen Wassern gewaschene Köchin, die sich auch abgelegene Aspekte des Handwerks wie Tiere zu häuten oder Schnaps zu brennen mit Leidenschaft angeeignet hat.

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Der spannenden Erlebnisse gab es viele. Zum Beispiel ein Trockenwürstchen garniert mit Zwiebelringen, gesäuert mit selbst gemachtem Quittenessig. Das Würstchen wurde hergestellt aus einem Reh, das den Strassentod hatte sterben müssen, es sah mit den darum herum drapierten Zwiebelringen kombiniert aus wie ein Pimmel. Wie bei jedem Gang führte Sandra Knecht kurz aus, was sie inspiriert hatte – nämlich der Auftritt von Pornolegende Rocco Siffredi im Film «Baise-moi» von Virginie Despentes, der dieser Gang gewidmet war. Geil, traurig, lustig, doof, liebevoll, frech: Das war das Gericht für die scharfe Denkerin aus Frankreich. Man fühlte sich sofort inspiriert, Despentes zu lesen.

Ich gehöre noch der Generation an, welche die Hauswirtschaftsschule besuchte.

Gedacht wie ein Gang in einem Spitzenlokal war der Teller für Anderson Bigode Herzer, eine Ikone der Trans-Community: In der Kohleglut konzentrierte Ananas, Chilisauce und Blutwurst, kombiniert mit einer schwarzen Bohnensuppe zum Trinken. Sandra Knecht führte auch hier aus, was sie zu den Komponenten überlegt hatte – das Degustieren der grossartigen Harmonie wurde dadurch noch viel bereichernder. Der einzige Ausreisser war beabsichtigt und natürlich der Gang, der meinen Tischgenossen am deutlichsten in Erinnerung blieb. Es war das Gericht für Valerie Solanas: Der von der legendären Warhol-Attentäterin inspirierte Teller war ein Alu-Schälchen mikrogewellte Mac and Cheese, wie sie in US-amerikanischen Knästen serviert werden. Fad, demütigend, niederdrückend, die Effekte noch verstärkt durch die Ergänzung mit einem 0,25-dl-Tetrapack widerwärtig sauren Orangensafts.

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Es wurde auch Knast-Food serviert.

Es würde hier zu weit führen, dieses ganze Essen nachzuerzählen, wohl aber möchte ich die Frauen erwähnen, denen die anderen Gänge gewidmet waren: Nan Goldin, Patti Smith, Audre Lorde, Leslie Feinberg, Miriam Can, Kristin T. Schnider und Beyoncé – okay, den Gang noch: In der Holzkohle geschwärzte halbe Zitrone mit einem irrsinnig guten, bitterherben Sorbet von Zitrone mit etwas Champagner und eingelegten Vogelbeeren, das Ganze angeregt von Beyoncés Album «Lemonade». Einfach nur sehr super! Ich rate den geneigten Leser*innen, nach den nächsten Auftritten von Sandra Knecht in den sozialen Medien Ausschau zu halten, ihr Instagram-Handle lautet @chnaechtspaecht.

Sandra Knecht regte mich an, beim Essen wieder vermehrt in Chiffren zu denken und weniger in der überkommenen Triade von Stärke/Eiweiss/Fett, wie das meine Generation noch in der Hauswirtschaftsschule gelernt hatte. Jede Komponente auf dem Teller, den wir in unseren Küchen zubereiten, steht nicht nur für die gelieferten Nährstoffe, sondern auch für unser Leben als Landtiere, und zwar stammes- wie individualgeschichtlich. So steht Fleisch stammesgeschichtlich für die Jagd, aber auch für die Tieropfer längst untergegangener Religionen. Individualgeschichtlich steht es bei mir für unsere untrennbare Verbindung mit der kapitalistischen Logik (nicht immer negativ, aber grundsätzlich tödlich, und wer kein Fleisch isst, ist deswegen kein besserer Mensch).

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Knollige Feldfrüchte aus dem Boden wie blättriges Grün stehen stammesgeschichtlich für die Verwurzelung unserer Landwirtschaft in der Botanik, wie sie vor dem Menschen auf der Welt anzutreffen war. Sie sind das Ursprünglichste, was wir zu uns nehmen können. Individualgeschichtlich bedeuten sie (für mich) das Bewusstsein, wie jedes Tier in den Jahresablauf eingebunden zu sein, und sie stehen auch für den Wunsch, ein naturnäheres Leben zu führen. Carbs wie Reis und Weizen stehen für unsere Vorfahren, die die Landwirtschaft entdeckten, und verkörpern auf unseren Tellern die Entwicklung zu dem, was wir heute sind (anfällige Gehirne auf zwei Beinen).

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Anders gesagt: Wir sollten alle öfter versuchen, die uns gereichten Teller zu lesen, das würde unser Erleben bereichern und unsere Küche kreativer machen. Beim Nachdenken und Nachfühlen des Dinners in der Galerie kam mir die Idee zu einem Teller, den ich hiermit Sandra Knecht widmen möchte: Ein Riesling-Risotto mit getrockneten Steinpilzen, dazu als Kontrast eine halbe gedämpfte Rande, bestrichen mit Wasabi-Paste und dick bestreut mit geröstetem Paniermehl, das ich grosszügig mit rauchigem Pimentón de la Vera würzte. Wirkt vielleicht avantgarde oder over the top, schmeckte aber am Ende überraschend klassisch. Halt wie dieser weiblich inspirierte Zehngänger, an den ich mich lange und gern erinnern werde.

Dieser Artikel ist nicht gratis.

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