LGBT-Kolumne

Auf einmal bi?

Kolumne: Anna Rosenwasser

Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Im Mai erzählt die Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz, weshalb sie während der Corona-Krise plötzlich verzweifelte Post von Heterosexuellen erhält.

Diese Frühlings-Quarantäne macht aus mir Dr. Sommer. Denn jetzt, wo viele zu Hause sitzen müssen und manche zu wenig zu tun haben, gibt es plötzlich Dinge, über die man nachdenkt. Dinge, die man sonst verdrängt, während man im Fitnessstudio pumpt oder mit Freundinnen auf der Chinawiese rumliegt oder im Büro den dritten Kaffee rauslässt. Das fällt jetzt alles weg, das Studio und die Freundinnen und das Büro. Und dann kommen Gedanken auf, die sonst brav untergehen.

Wenn sich diese Fragen um die sexuelle Orientierung drehen, landen sie gelegentlich bei mir, weil ich mich beruflich mit der sexuellen Orientierung befasse. Und wenn sich die Frage um Bisexualität dreht, landet sie erst recht bei mir, weil ich auf meinen privaten Kanälen so oft eins auf «bi bi bi» mache, dass man denken könnte, ich sei ein NSync-Hit aus den Nullerjahren (oder, für die Leser*innen mit Nuller-Jahrgang: ein Track von Cro oder Capital Bra).

Es taucht momentan immer die gleiche Geschichte auf.

Innerhalb dieser Fragen über die Orientierung, und spezifisch innerhalb der Fragen rund um Bisexualität, taucht momentan immer die gleiche Geschichte auf, von ganz unterschiedlichen Leuten erzählt. Lange, ausführliche Nachrichten in meiner Inbox von Leuten, denen ich noch nie begegnet bin, quittiert mit einem Fragezeichen.

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Die Geschichte geht so: «Ich bin in einer stabilen Beziehung, und zwar in einer heterosexuellen. Ich bin glücklich, eigentlich. Und plötzlich check ich, dass ich bi bin. Wie kann das sein? Warum ist das so? Und vor allem: Was zur Hölle mach ich jetzt?» Die Frage kommt von Joshua, 27, der schon seit einem halben Jahrzehnt mit seiner Freundin zusammen ist. Sie kommt von Adina, mehr so im Cro-/Capital-Bra-Alter, die hätte schwören können, ihr Freund sei ihre grosse Liebe. Und sie kommt von Menschen, die verlobt sind, ja sogar verheiratet, und plötzlich Angst haben. Was zur Hölle soll diese Veränderung, wenn ich doch eigentlich endlich diese Konstanz gefunden habe?

Es gibt drei wichtige Dinge, die uns über sexuelle Orientierung selten beigebracht werden. Erstens kann sie sich verändern. Man bleibt nicht unbedingt sein Leben lang homo oder hetero. Vielleicht findet man seinen Crush von vor einem Jahr nicht mehr heiss; vielleicht findet man mit der Zeit Männer nicht mehr heiss. Wir verändern uns ein Leben lang. Das gilt auch für unsere Sexualität.

Sexuelle Orientierung ist nicht das, was man tut.

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Zweitens: Es gibt nicht nur das äussere Coming-out, bei dem man seinen Mitmenschen mitteilt, wer man ist. Es gibt auch das innere Coming-out, wo man selbst erst checken muss, wer man ist. Es gibt Leute, die wissen schon als Kind, dass sie mega gay sind. Es gibt Menschen, die werden früher pensioniert, als dass sie ihre Homosexualität checken. Auch dann, wenn man sich irgendwo im Spektrum zwischen straight und gay befindet, kann es Jahre dauern, bis man bereit ist, sich bei sich selbst zu outen. Und das ist okay.

Drittens: Sexuelle Orientierung ist nicht das, was man tut. Es ist das, was man empfindet. «Orientierung» beschreibt, in welche Richtung man guckt – nicht, welche Wege man abtrampelt. Man kann bisexuell sein und in einer lebenslangen, monogamen Beziehung. Das macht einen nicht weniger bi. Denn Bisexualität ist keine Handlung, sondern ein Empfinden.

Was also tun, wenn man in einer «Hetero»-Beziehung ist und merkt, dass man auch auf sein eigenes Geschlecht steht? Sich freuen darüber, dass man noch mehr Anziehung empfinden kann, als man für möglich gehalten hätte. Vielleicht seinem Schätzli davon erzählen, weil das aufregend und interessant und eventuell wichtig ist. Und dann gemeinsam überlegen, wer in welche Richtung schaut – und ob, ganz vielleicht, irgendwann mal ein Weg gegangen wird. Freundliche Grüsse, eure Quarantäne-Dr.-Sommer.