Kultur & Nachtleben

Am Stammtisch der Wikipedianer

Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nichts von ihnen lesen: Die Wikipedianer halten die wohl wichtigste Online-Enzyklopädie und damit einen Teil unseres externen Gehirns in Schuss. Über ihr besonderes Hobby tauschen sich manche Autoren regelmässig auch im Real Life aus – unter anderem beim Stammtisch in Zürich. Wir haben Lars Haefner an das Treffen im Restaurant «Huusmaa» begleitet.

Stundenlange Internetrecherchen und konzentriertes Tippen im stillen Kämmerchen: Wer in seiner Freizeit Wikipedia-Artikel schreibt, verfolgt dabei in der Regel ein eher einsames Hobby. Doch es gibt auch Anlässe, bei denen sich die Wikipedia-Autorinnen und -Autoren ausserhalb des Internets treffen, zum Beispiel den zweimonatlichen Wikipedia-Stammtisch, der meist in Zürich stattfindet und von Autoren aus der ganzen Deutschschweiz besucht wird. Zum Stammlokal hat sich dabei das Restaurant «Huusmaa» an der Badenerstrasse entwickelt, wo auch an diesem kalten Winterabend Platz für die Wikipedianer reserviert ist.

15

Jahre schreibt Lars Haefner bereits für Wikipedia.

Voyager, Horgner und Lars Haefner alias Albinfo* – drei Männer im Alter von 40 bis 60 Jahren – haben es sich bereits in der Mitte des langen Holztisches gemütlich gemacht und mit dem ersten Bier angestossen, als ein vierter Mann im Pensionsalter lächelnd auf sie zukommt. «Und was ist dein Benutzername?», fragt Horgner, nachdem sich der Neue zunächst nur mit Vornamen vorgestellt hat. «Agnarmykle», meint dieser und erklärt sogleich, dass er heute das erste Mal am Stammtisch teilnehme. Auch für Wikipedia schreibe er, der vor seiner Pension als Dozent an einer Fachhochschule tätig war, erst seit Kurzem. «Was ist denn dein Feld?», stellt Horgner die zweite obligate Frage und erfährt, dass Agnarmykle vor allem Artikel ergänzt und korrigiert, die über Gallus, den Schutzpatron seines Wohnortes, berichten. Neue Artikel lege er immer dann an, «wenn ich etwas entdecke, das ein bisschen eigenartig ist».

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Wikipedia-Schreiber Lars Haefner bei einem Referat in Albanien. Foto: Andis Rado

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Ab und zu auch unterwegs: der Wikipedia-Stammtisch bei einer Besichtigung des Flughafens Zürich im August 2017. Foto: Burkhard Mücke

Obwohl Agnarmykle zum ersten Mal beim Stammtisch ist, steigt er sofort in die Gespräche ein. Diese drehen sich zunächst vor allem um die WikiCon, das jährliche Treffen der deutschen Wikipedia-Community, das diesen Oktober stattgefunden hat. Wer alles dabei war, weshalb St. Gallen als Tagungsort das Rennen gemacht hatte oder wie das Käsefondue des deutschen Küchenchefs schmeckte – all dies wird eifrig diskutiert, während nach und nach weitere Wikipedianer zur Runde stossen. Mit jeder Person wächst die Menge an Gesprächsthemen, bis man am Ende – ein Stammtisch-Teilnehmer ist Theologe – im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt debattiert.

Als sie ihre erste Bearbeitung am Artikel über die Kommunistin Anneliese Rüegg vornahm, so geschah dies aus Ärger über die antiquierte Formulierung «Sie gebar ihm einen Sohn».

Auf schliesslich 13 Männer kommt dabei bloss eine Frau: Gabi Einsele aus Stallikon, die unter dem Pseudonym Sarita98 schreibt. Sie fühle sich wohl in der Wikipedia-Gemeinschaft, sagt die 62-jährige Deutschlehrerin, obwohl viele Wikipedianer Informatiker seien und sie mit diesem Fachgebiet nichts anfangen könne. Einseles grosses Interesse gilt Frauenbiografien des 20. Jahrhunderts. Als sie vor einigen Jahren ihre erste Bearbeitung am Artikel über die Kommunistin Annelies Rüegg vornahm, so geschah dies aus Ärger über eine antiquierte Formulierung: «Sie gebar ihm einen Sohn», hiess es damals noch über die Schweizer Kommunistin.

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Ein Sich-Ärgern über Wissenslücken, eine Art inneres Jucken, weil da einfach noch etwas fehlt – das scheint für viele der anwesenden Wikipedianer am Anfang ihrer Online-Karriere gestanden zu haben. Bei Lars Haefner war es nicht anders. Der 43-Jährige, der in der Kommunikationsabteilung der Krebsliga Schweiz arbeitet, stiess vor bald 15 Jahren zur Online-Community, weil er Informationen über Albanien zur Verfügung stellen wollte. «Es gab damals einfach so viel, was gefehlt hat, Lücken, die meiner Meinung nach weg mussten.» Durch Reisen und Hilfsprojekte für das Thema sensibilisiert, lag es dem Zürcher am Herzen, «mit Informationen Vorurteile abzubauen und das Land zugänglicher zu machen».

Und manchmal, da schaffen es seine Fotos bis in die Redaktionen von Schweizer Zeitungen.

Heute liest man von Lars Haefner Artikel über das Skanderbeggebirge, über das nationale Folklorefestival von Gjirokastra oder über den albanischen Schriftsteller Ismail Kadare. Doch auch seine nähere Umgebung – vom Adlisberg bis zum Zoo Zürich – hat Lars Haefner für Wikipedia ausgeleuchtet. Und manchmal, da schaffen es seine Fotos bis in die Redaktionen von Schweizer Zeitungen. So erzählt Haefner, wie der «Blick» einst sein Bild eines Kapuziner-Äffchens zur Illustration einer Geschichte nutzte. «Das ist dann auch eine Bestätigung, dass die eigene Arbeit gebraucht wird», sagt Haefner und lacht. Er hofft, dass in Zukunft noch mehr neue Autorinnen und Autoren die Freude an Wikipedia entdecken. Der Stammtisch ist auf jeden Fall ein guter Ort, sich erstmals mit dem Wiki-Virus infizieren zu lassen.

* Pseudonyme in Wikipedia. Gewisse Autoren wollen anonym bleiben.