«Die Vergewaltigung ist einfach noch eine Erinnerung»
In «Vergewaltigt» beschreibt die Zürcher Studentin Tatjana Kühne die Jahre nach einem sexuellen Missbrauch. Mit uns hat sie über die Folgen und ihr Leben heute gesprochen.
Du wurdest als 13-Jährige vergewaltigt. Jahrelang hast du es niemandem erzählt. Jetzt hast du ein Buch über die Zeit danach geschrieben – und alle können es lesen.
Das ist immer noch ein komisches Gefühl. Kürzlich habe ich im Zug eine Frau gesehen, die mein Buch gelesen hat. Was für ein riesiger Zufall! Ich war total baff. Ich habe zum ersten Mal wirklich realisiert, dass jetzt fremde Menschen meine Geschichte erfahren und sich über sie Gedanken machen können. Es war mir aber wichtig, dass ich vom Verlag nicht in die Öffentlichkeit gezerrt werde. Meine Erfahrungen und nicht ich als Person sollen im Fokus stehen.
Du hast das Buch als Maturaarbeit geschrieben. Jetzt ist es überarbeitet beim Zürcher Xanthippe Verlag erschienen. Gab es Leute, die dir davon abrieten?
Ja, am Anfang fast alle. Sie haben mich gewarnt, dass so ein Buch eine Last werden könnte. Die Leute, die darin vorkommen, waren mit der Veröffentlichung natürlich alle einverstanden. Und auch die Skepsis der anderen hat sich gelegt, als sie die positiven Rückmeldungen mitbekommen haben. Durch das Buch hatte ich auch mehr oder weniger die Kontrolle darüber, wer von der Vergewaltigung erfuhr. Als ich damals die Maturaarbeit schrieb, entstanden an der Schule Gerüchte. Auf diese konnte ich dann selbstbestimmt reagieren. Auch war es durch das Buch einfacher, mit meinen Verwandten darüber zu reden – es gab einen konkreten Anlass.
«Ich habe zum ersten Mal wirklich realisiert, dass jetzt fremde Menschen meine Geschichte erfahren.»
Hattest du keine Angst vor den Reaktionen?
Doch. Ich habe mir sämtliche Szenarien ausgemalt. Meine Verlegerin hat mich auch davor gewarnt, was passieren könnte, wenn vielleicht die falschen Medien das Buch thematisieren. Es ist aber nichts Unerwünschtes passiert. Es ist wirklich unglaublich, welchen Rückhalt mir die Gesellschaft gibt.
Erhältst du Rückmeldungen von Frauen, die ebenfalls vergewaltigt wurden?
Ich kriege kaum Nachrichten, weil meine Kontaktdaten nirgends stehen. Aber es sprachen mich vereinzelt Leute auf der Strasse an. Sie erzählten mir, dass sie oder ihre Tochter auch eine Vergewaltigung erlebt haben. Sie sehen jetzt, dass es möglich ist, das Erlebte zu verarbeiten. Das ist auch das Ziel meines Buches: anderen Betroffenen Mut zu machen, einen Weg zu finden, wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
«Frauen erzählten mir, dass sie oder ihre Tochter auch eine Vergewaltigung erlebt haben.»
Deine erste Therapie war gescheitert.
Die ausprobierten Ansätze haben mir überhaupt nicht zugesagt. Es fühlte sich nach Herumexperimentieren an. Ich hatte aber lange nicht den Mut, zu sagen, dass mir die Therapie nicht passt. Ich dachte, dass diese Fachleute ja schon wissen, was sie tun. Wenn es nicht anschlägt, müsste der Fehler bei mir liegen. Das machte alles nur noch schlimmer.
Die zweite Therapie war erfolgreich.
Ja. Aber ich war am Anfang sehr skeptisch. Ich wollte mich erst gar nicht darauf einlassen. Es war allgemein schwierig für mich, professionelle Hilfe anzunehmen. Ich hatte das Gefühl, dass ich damit offiziell ein gestörtes Mädchen sei, das nicht mit sich klar kommt. Da reichte auch nicht, dass andere zu mir gesagt haben, dass eine Therapie nicht schlimm sei. Deshalb finden sich am Ende des Buches auch Informationen zu Hilfsangeboten. Mir hätte so etwas damals sehr geholfen.
«Natürlich prägte mich die Vergewaltigung. Heute bin ich vielleicht vorsichtiger als andere.»
Du schreibst, dass die ersten fünf Jahre nach deiner Vergewaltigung voller Schmerz, Angst und Scham waren. Wie geht es dir heute?
Diese Gefühle sind überhaupt nicht mehr präsent. Im Gegenteil! Es geht mir wirklich gut. Ich kämpfe überhaupt nicht mehr mit dem Thema und kann sehr offen darüber sprechen. Natürlich prägte mich die Vergewaltigung. Heute bin ich vielleicht vorsichtiger als andere. Aber ich kann es akzeptieren. Die Vergewaltigung ist für mich einfach noch eine Erinnerung.
War es schwierig, das Buch zu verfassen?
Ja, es war ein langer Prozess. Als ich das Buch anfing, hatte ich das Trauma aber verarbeitet. Ich schreibe auch nicht über die Vergewaltigung, sondern die fünf Jahre danach. Deshalb heisst das Buch auch «Vergewaltigt». Diese Zeit hatte ich vorher eigentlich nie wirklich aufgearbeitet. Es tat mir gut, dieses Chaos durch das Schreiben zu ordnen. Es machte mir klar, was ich in dieser Zeit alles gemacht und erlebt habe.
Du schreibst auch viel von deinen Eltern. Ihnen hast du erst zweieinhalb Jahre und nach einem Selbstmordversuch von der Vergewaltigung erzählt.
Sie dachten lange, dass ich einfach eine schwierige pubertäre Phase durchmache und ich vielleicht einfach deswegen reizbar sei. Als ich es ihnen dann erzählt habe, haben sie mich sehr unterstützt. Ich hatte aber manchmal Mühe damit, ihnen alle diese Probleme aufzuladen. Doch es hat unsere Familie stärker gemacht. Auch das Verhältnis zu meinen zwei Brüdern ist heute sehr eng.
Adresse
Karl der Grosse
Kirchgasse 14
8001 Zürich
Infos
Am Donnerstag, 7. März, erzählt und liest Tatjana Kühne im Karl der Grosse aus ihrem Buch «Vergewaltigt». Anschliessend diskutiert sie mit der Fachfrau Bettina Steinbach von der Frauenberatung für sexuelle Gewalt in Zürich. Moderiert wird der Anlass von der Journalistin Noemi Landolt (WOZ). Der Eintritt ist frei.