Kultur & Nachtleben | Nachtleben-Kolumne

Das Nachtleben verdankt den Queers viel

Homophobe Gewaltvorfälle prägten anfangs Jahr die Schlagzeilen. Schwule Partygänger wurden nicht nur verbal, sondern auch körperlich angegriffen. Erschreckend genug, dass homophobe Gewalt heute noch existiert. Doch dass diese Übergriffe im Nachtleben – und besonders im Niederdorf mit seiner schwulen Geschichte – geschahen, ist absolut unverständlich. Trotz Corona darf das Thema nicht in Vergessenheit geraten. Unser Nachtleben-Kolumnist Alexander Bücheli nimmt den internationalen Tag gegen Homophobie am 17. Mai zum Anlass, an die Taten zu erinnern – und zu zeigen, wie das Zürcher Nachtleben von den Queers beeinflusst wurde.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Zürich zur LGBT-Hauptstadt. Schwule aus ganz Europa suchten hier Schutz vor der Verfolgung durch Nazideutschland. Das Gesicht dieser Zürcher Szene war der Kreis. Dabei handelt es sich um eine 1943 ins Leben gerufene Vereinigung, die sich schnell zum Lesezirkel entwickelte. Ab 1948 führte der Kreis grosse Bälle im Theater Neumarkt durch. Zum internationalen Renommee trugen nicht nur die Kostüme der Gäste bei, sondern auch die tänzerischen und kabarettistischen Einlagen. Es kamen jeweils bis zu 800 Kreis-Abonnenten mit ihren Gästen, die teilweise gar aus Übersee anreisten. Der Kreis entwickelte sich rasch auch zum Eventveranstalter, der neben den Bällen auch regelmässig Tanzveranstaltungen im Restaurant Eintracht am Neumarkt durchführte. Doch Schwule waren nicht überall gerne gesehen und auch der Stadt ein Dorn im Auge. 1960 sprach sie ein Tanzverbot – nur für Männer! – aus. Der Kreis konnte dadurch keine Veranstaltungen mehr in der Eintracht durchführen, die Bälle fanden zwischenzeitlich in Spreitenbach statt.

Einige reisten für die Bälle aus der ganzen Welt an.

Die homophobe Politik der Stadt widerspiegelte damals die generell vorherrschende Stimmung innerhalb der Bevölkerung. Diese wurde massgeblich von der Presse beeinflusst, welche Schwule – vor allem Stricher – immer mehr als Parasiten und als Gefahr bezeichnete. Wie hitzig die Stimmung war, zeigten in den späten 1950er-Jahren zwei Morde im Strichermilieu. Die Täter wurden von den Medien als Helden gefeiert und trotz erdrückender Beweislast freigesprochen. Zur gleichen Zeit begann die Polizei mit unrechtmässigen Befragungen von vermuteten Homosexuellen, um sie in einem Schwulenregister aufzulisten.

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Alle Bilder wurden im Heaven aufgenommen.

Trotz aller Widrigkeiten blieb die Schwulenszene weiterhin aktiv. Eine wichtige Rolle spielte dabei der 1956 eröffnete Barfüsser. Der Barfü galt nicht als Tanzlokal und war deshalb nicht vom Tanzverbot für Männer betroffen. Rasch entwickelte sich der Barfü zum Treffpunkt für alle: homosexuelle Frauen und Männer jeden Alters, aber auch Transvestiten, Hetero- und Bisexuelle und später die Lederkerle – eine Fetisch-Gruppe.

Das Tanzverbot für Männer wurde erst 1966 im Rahmen der Eröffnung des Conti-Clubs in der obersten Etage der Köchlistrasse im Kreis 4 stillschweigend aufgehoben. Einzig die Nachbarn begegneten dem Schwulenclub unverhohlen feindlich und klagten über zu viel Lärm. Um diese Situation zu entspannen, lud man die ganze Nachbarschaft zur Lokalbesichtigung mit Imbiss ein. Die offenen Gespräche klärten die Fronten. Ein Ansatz, der übrigens noch heute, im Rahmen des Tages der offenen Bar und Club Tür, von der Bar & Club Kommission Zürich gepflegt wird.

1960 sprach die Stadt ein Tanzverbot für Männer aus.

Mit den 1968ern keimte auch wieder etwas Hoffnung auf in der von Repressionen hart gebeutelten Zürcher Schwulenszene. 1971 bezogen einige homosexuelle Studenten ein Lokal und nannten diesen Treff nach dem damals beliebten Hippie-Film Zabriskie Point. Es ging den Jungen jedoch nicht nur um Musik und Tanz, sondern auch um politische Aktivitäten. Sie forderten neue, offene Denkweisen und wollten mutig Sichtbarkeit schaffen. Die Studenten gründeten im Zabi die «Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich (HAZ)». Sie waren sich bewusst, dass noch ein langer, harter Weg bevorstand.

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Der erste grosse Schritt in Richtung einer neuen offenen Denkweise war die Demonstration zum Christopher Street Day (CSD) im Jahr 1978. Das Ziel war klar: Das Schwulenregister der Polizei muss weg! Schnell entwickelte sich der Christopher Street Day zu einer farbenfrohen Parade und zog immer mehr Personen an, die sonst nichts mit der LGBT-Community am Hut hatten. So wurde der Tag zu einem der wichtigsten Öffentlichkeitsarbeitsinstrumente der gesamten Szene.

1971 forderten Studenten mehr Sichtbarkeit.

1987 wurde im Niederdorf das T&M eröffnet. Abgesehen von einer Handvoll Events, ein paar schummrigen Lokalen und den öffentlichen Parks in der Stadt gab es damals weiterhin kaum Orte, an denen Schwule unter sich sein konnten. Durch das Aufkommen von Aids litten sie wieder zunehmend unter gesellschaftlicher Ächtung. In der Öffentlichkeit wurde gar über Zwangstätowierungen und Isolationsstationen für Aids-Kranke nachgedacht. In dieser Atmosphäre einen Schwulenclub in der Innenstadt zu eröffnen, war mutig. Als Namensgeber des T&M fungierten die zwei Dragqueens Tamara und Marisa. Für die Zürcher Schwulen brachte die Eröffnung eine lang ersehnte Befreiung: Endlich hatten sie ein grosszügiges Refugium, wieder ein bunt dekoriertes Flaggschiff. Die Dragqueen-Shows wurden bald sehr bekannt und brachten auch immer mehr Heteros dazu, das T&M zu besuchen. Gerade in einer Zeit, in der noch die wenigsten Schwulen geoutet waren, war das T&M der sichere Hafen. 1999 kam zum T&M im oberen Stock noch das Aaah hinzu, das primär als Darkroom funktionierte: Man konnte sich nun im T&M kennenlernen und im Aaah dann gleich zum Akt kommen.

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Anfang der 1990er-Jahre entwickelte sich eine spezialisierte Partyszene, die mit der Gay Night Company im Deposit im Zürcher Industriequartier begründet wurde. Im Mittelpunkt stand elektronische House-Musik, die von Detroit aus langsam Europa eroberte. Schwule und Transen waren auch oft im Flamingo an den House-Partys anzutreffen. 1993 startete das Labyrinth als Untergrundclub. Der Name stammt daher, dass sich das erste Laby in einem labyrinthartigen Keller beim Albisriederplatz befand. Danach zog es neben den Letzipark, um dann von dort über die Gleise an die Pfingstweidstrasse als einer der ersten Clubs nach Zürich-West überzusiedeln. Auch im Aera in Altstetten, auf dem Labitzke-Areal, ravten die Kerle durch, an der Decke drehte eine Modelleisenbahn die Runde. Die Macher des Aeras laden auch jetzt noch einmal jährlich im Hive zur Blumenparty ein. Im Profitreff am Sihlquai finden nun seit Mitte der 1990er-Jahre jeweils mittwochs Gay-Partys statt, zu den Mitinitiatoren gehörte übrigens der heutige Stadtrat André Odermatt.

Im Niederdorf kam 1997 die Cranberry Bar hinzu. Sie ist zur Zürcher Institution der Gay-Szene geworden, unter anderem dank der hervorragenden Cocktails. Der Heaven Club eröffnete im März 2013 und erfreute sich schnell grosser Beliebtheit. Wohl auch, weil er es schaffte, die schon im T&M beliebten Drag-Shows, mit Formaten wie Drag-Race, in die Neuzeit zu retten.

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Mitte der Achtziger eröffnete in der Innenstadt ein neuer Schwulenclub.

Zudem sorgen Partylabels in verschiedenen Locations dafür, dass die durch den Kreis ins Leben gerufene Tradition des Balls weiterexistiert. Mit 25 Jahren ist die Tanzleila die älteste Partyserie Zürichs und noch heute ein Garant für grossartige Partynächte unter Frauen. Beliebt sind auch die Formate der Angels, zum Beispiel die White Party, zu der alle Gäste in Weiss erscheinen. Boyakasha ist eines der neueren Partylabels und setzt auf Drag-Shows im grossen Rahmen sowie auf angesagte DJs aus den Bereichen R&B und Electro.

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Der LGBT-Community hat das Zürcher Nachtleben nicht nur inhaltlich und musikalisch viel zu verdanken. Die Betreiber des ehemaligen Labyrinth-Clubs sind ein wichtiger Teil jener Gruppe, die in den 1990er-Jahren den korrupten Beamten Raphael «Don Raffi» Huber auffliegen liess und damit der Liberalisierung des Zürcher Nachtlebens den Weg ebnete. Zudem waren schwule Partylabels damals stilbildend, die ersten Orte, wo House-Musik oder später auch Hip-Hop gespielt wurde. Kurzum: Homophobe Nachtschwärmer*innen haben schlicht nicht verstanden, woher die Kultur stammt, die sie anscheinend so schätzen. Es ist an uns allen, Hass und Gewalt in der Nacht zu ächten. Und wer sich fragt, wieso die LGBT-Community gewisse Berührungsängste mit der Polizei hat, dann reicht es schon, sich an das Zürcher Schwulenregister zu erinnern.