Kultur & Nachtleben | Nachtleben-Kolumne

Ja, das Nachtleben ist Kultur!

Kolumne: Alexander Bücheli Fotos: Sozialarchiv / Verein Street Parade Zürich / Zac Bromell

Zu kommerziell, zu laut und nicht systemrelevant: Unser Kolumnist Alexander Bücheli entkräftet die häufigsten Kritikpunkte am Nachtleben. Der Sprecher der Schweizer Bar- und Clubkommission findet, dass gerade die Zürcher*innen eigentlich weiter sein sollten. Schliesslich wurde in den 80ern für nächtliche Freiräume gekämpft und die Zürcher Technokultur zählt seit 2017 zu den lebendigen Traditionen der Schweiz.

Am Abend des 30. Mai 1980 versammelten sich Hunderte junger Menschen vor dem Zürcher Opernhaus. Der Stadt- und Gemeinderat hatte kurz zuvor einen Kredit von 60 Millionen Franken für die Sanierung des Opernhauses bewilligt, jugendliche Forderungen nach alternativkulturellen Angeboten jedoch abgelehnt. Im Verlauf der Demonstration kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen und zu Randale.

Die Opernhausproteste dauerte zwei Jahre.

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Der sogenannte Opernhauskrawall bildete den Auftakt zu einer zwei Jahre dauernden Phase, die von gewaltsamen Strassenprotesten, aber auch von neuen Formen kultureller und politischer Manifestationen rund um das Autonome Jugendzentrum (AJZ) geprägt war. Das AJZ wurde im Frühjahr 1982 abgerissen. Die Forderungen der Protestierenden erfüllten sich in den folgenden Jahren trotzdem: In rascher Folge öffneten das Kulturzentrum Rote Fabrik, das Kanzleizentrum, das Theaterhaus Gessnerallee und das Jugendkulturhaus Dynamo. Der Rückzug der Industrie aus der Stadt bot in den 90er-Jahren dann Raum für illegale Clubs und Bars. Nicht wenige der heute noch aktiven Nachtkultur-Exponent*innen haben mit illegalen Anlässen ihre Karriere gestartet. Erst 1998 liberalisierte der Kanton das Gastgewerbegesetz. Praktisch über Nacht explodierte die Zahl der Nachtcafés. Heute gibt es in der Stadt gegen 700 Gastronomiebetriebe, die bis nach Mitternacht geöffnet haben. Zum Vergleich: 1980 waren es noch 40.

5000 Menschen arbeiten im Zürcher Nachtleben.

Wie relevant die Nachtkultur für die Stadt Zürich ist, zeigen die 2018 durch die Bar & Club Kommission erhobenen Kennzahlen. Alleine deren 120 Mitglieder zogen mehr als 5 Millionen Gäste an und machten insgesamt über 230 Millionen Franken Umsatz. Rund 5000 Menschen arbeiten im Zürcher Nachtleben. Unter den Arbeitnehmenden sind Barkeeperinnen, Dekorateure, Tontechnikerinnen und Musiker. Die Bars und Clubs schaffen auch Jobs für Getränkelieferanten, Reinigungskräfte oder Sicherheitsleute. Die 2500 Teilzeitstellen sind besonders bei Studierenden beliebt. Manch künftige Anwälte, Ärztinnen oder Ökonomen finanzieren sich hinter dem Tresen das Studium. Betrachtet man die gesamte Wertschöpfungskette des Nachtlebens, dann gehen vorsichtige Schätzungen davon aus, dass rund 1 Milliarde Schweizerfranken in der Stadt Zürich dank der Kultur in der Nacht hängen bleibt. Nicht einberechnet sind hier Grossveranstaltungen wie die Street Parade.

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Die Clubs und Bars tragen das volle unternehmerische Risiko.

Doch neben den wirtschaftlichen Dimensionen stellt das Nachtleben auch einen wichtigen kulturellen Faktor dar. 2018 führten die Mitglieder der Bar- und Clubkommission über 10’000 kulturelle Veranstaltungen durch. Dazu gehören neben Partys und Konzerten auch Theater, Lesungen und Comedyshows. Zum Vergleich: In der Spielzeit 2017/2018 gab es im Opernhaus Zürich 324 und im Schauspielhaus 547 Veranstaltungen. Dabei findet das kulturelle Angebot in den Clubs und Bars auf unternehmerisches Risiko hin und ohne Subventionen statt. Es ist nicht zuletzt dem breiten kulturellen Angebot geschuldet, dass Zürich in den internationalen Ranglisten der urbanen Lebensqualität regelmässig einen Spitzenplatz einnimmt. Solche Auszeichnungen helfen wiederum, junge Talente für die Zürcher Ableger von Google oder Facebook hierherzuholen.

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Clubkultur steht dabei nicht nur für Musik, sondern auch für die von den Akteuren des Nachtlebens und deren Gästen geschaffenen geistigen und gestaltenden Leistungen – sei es die visuelle Sprache, die im Nachtleben eine wichtige Rolle spielt (Flyer und Visuals), oder szenenspezifische Codes wie Tanzstil oder Kleidung. Soziologisch betrachtet handelt es sich um einen Sozialraum, in dem an unterschiedlichen Orten Güter (z. B. musikalische Inhalte) zur Verfügung gestellt werden und sich die Gäste mit dem Raum identifizieren. Diese Identifikation mit dem Nachtleben ist bei der Jugend am grössten. Wie die Besucherzahlen zeigen, kann man beim Partyfeiern von der wichtigsten kollektiven Freizeitaktivität junger Menschen sprechen.

Viele Partygänger*innen geht auch in die Oper oder ins Museum.

Dass das Nachtleben durchaus kulturaffine Personen anzieht, zeigt eine Studie aus Berlin. Über die Hälfte der befragten Partygänger*innen besucht mindestens einmal im Monat andere kulturelle Angebote. Die meisten gehen ins Kino, doch auch rund die Hälfte der Clubbesucher*innen gab an, Theater- und Opernvorstellungen oder Museen zu besuchen. Doch nicht nur die kulturelle Teilhabe wird durch das Nachtleben gefördert, die Clubs und Musik-Bars fördern auch das einheimische Musikschaffen. Auf knapp 10’000 Veranstaltungen spielen pro Jahr rund 50’000 Künstler*innen, wovon nur 30 Prozent aus dem Ausland stammen; 50 Prozent sind Zürcher Acts.

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Zürich weist eine der höchsten Clubdichten Europas auf, das Nachtleben zählt dank der kurzen Distanzen zu einem der attraktivsten der Welt. Dies geht einher mit einer Wandlung des Images der Stadt. Vor der Liberalisierung des Gastgewerbegesetzes galt die Stadt als verschlossen und verschlafen, ja provinziell. Heute profitiert die Stadt von einem kulturellen Angebot, das sich mit Grossstädten vergleichen lässt. Die aktuelle Diskussion über Clubs ist dem Wert der Nachtkultur nicht würdig. In der Krise drehte sie sich rasch nicht mehr um Argumente, es wurde vor allem polemisch und moralisch argumentiert. Eine durchtanzte Nacht ist ein Zeichen unserer Zeit. Sie bietet Freiheiten, die im durchgetakteten Alltag der 24-Stunden-Gesellschaft rar geworden sind. Auch während Corona ist der Wunsch nach Kultur in der Nacht da. Vielleicht ist er sogar grösser denn je. Dies zeigt sich in den Ländern, in denen die Clubs weiterhin geschlossen sind und die Zahl der illegalen Partys steigt. Ob Krise oder nicht, eines ist klar: Die Stadt Zürich braucht ein lebendiges Nachtleben und wir brauchen eine tolerante und weltoffene Stadt.

Dieser Artikel ist nicht gratis.

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