Stadt & Geschichte

Keine Orte zum Verweilen

Im Bildband «Zwischenstadt» zeigt Marco Vannotti Orte am Rand von Zürich: An den Endstationen der Trams. Dort, wo anonyme Wohnbauten und Schrebergärten sind, Industrie beheimatet war und nicht mehr alles gutschweizerisch geordnet ist. Wir haben Marco Vanotti zum Interview getroffen.

Du zeigst in deinen Fotos die Stadt Zürich, wie man sie kaum je gesehen hat. Abseits der üblichen bekannten, touristischen Pfade. Was hat dich zum Projekt inspiriert? Wie bist du auf die Idee gekommen?

Marco Vannotti: Einerseits hatte ich schon immer eine Faszination für Gegenden am Rande, im Dazwischen, für Motive abseits der Sehenswürdigkeiten, für das Alltägliche und Nebensächliche. Andererseits ging es mir darum, meine selbstgewählte Heimat – die Stadt Zürich – besser kennenzulernen und zu erkunden. Entsprechend kam der Gedanke, die mir unbekannten Orte und Gegenden in der Stadt Zürich aufzusuchen und zu fotografieren. Im Oktober 2020 folgte der Startschuss des Projektes, als ich zum ersten Mal eine Tram bis an die Endstation nahm, um die Umgebung am Stadtrand auf mich wirken zu lassen – seither liess mich die Idee nicht mehr los. Fotografisch war ich dabei hauptsächlich von Stephen Shore inspiriert, welcher das Alltägliche und Unspektakuläre der amerikanischen Stadtlandschaft fotografierte.

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«Diese Orte sind voller Leben, auch wenn man darauf kaum Menschen findet.»

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Was einem beim Betrachten der Bilder auffällt: Es sind fast keine Menschen zu sehen. Hast du die Aufnahmen ganz bewusst so gemacht oder am Ende so zusammengestellt, dass es kaum Leben darauf gibt?

Mir war es ein Anliegen, eine einheitliche Bildsprache zu entwickeln und somit eine gewisse Ruhe in die Serie zu kriegen. Deshalb wollte ich nicht zu viele Menschen auf den Bildern ablichten: Die Orte selber sollen wirken. Meistens waren dort, wo ich fotografierte, auch nie viele Menschen anwesend. Es scheinen keine Orte zum Verweilen zu sein.

Und das Interessante dabei ist, dass diese Orte trotzdem voller Leben sind, auch wenn kaum Menschen darauf zu finden sind. Genau dieser Umstand regt unter Umständen dazu an, sich Gedanken über das Leben in jenen Orten zu machen.

Obschon alle Bilder in und um Zürich entstanden sind, wird die Stadt Zürich nicht explizit im Titel des Buches erwähnt, sondern der Titel lautet «Zwischenstadt». Was waren deine Überlegungen dabei?

Zusammen mit meinem Verleger (Bruno Margreth von About Books) sind wir zum Schluss gekommen, dass es sich bei meinem Projekt um mehr als eine reine Dokumentation der Stadt Zürich handelt – es geht darüber hinaus. Denn unbeachtete, übersehene, vermiedene Orte und Gegenden finden sich in allen Städten der Welt. Meine Stadt könnte auch irgendeine andere Stadt sein. Auch sie hat Orte, die zwischendrin liegen, im Dazwischen. Auch sie ist Zwischenstadt. Eine gute Freundin meinte beispielsweise, dass manche der Aufnahmen auch in Berlin oder im Mittelland entstanden sein könnten.

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«Wie möchten wir in der Stadt leben? Wo fühlen wir uns zuhause? Und warum?»

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Was hat dich dazu bewogen, ein Buch zu veröffentlichen, und wie bist du bei der Entstehung vorgegangen?

Das Projekt lebt von einer gewissen Vielfalt an Eindrücken. Es ist eine Reise um die ganze Stadt, und dazu bedurfte es einer bestimmten Anzahl Bildern. Dementsprechend empfand ich die Buchform als passende Präsentationsform meines Projektes. Mit Bruno Margreth hatte ich dann auch das Glück einen Verleger zu finden, der mich in meinem Unterfangen unterstützte.

Ein weiterer wichtiger Baustein in der Umsetzung des Buches war die Zusammenarbeit mit der Autorin Milena Thurnheer. Sie liess sich von meinen Fotografien inspirieren und schrieb einen Text dazu. Jener Text wiederum gab mir zusätzliche Hinweise darauf, wieso ich dieses Projekt in Angriff nahm. Es entstand die Ahnung in mir, dass diese äussere Reise Ausdruck einer inneren Reise sein könnte, auf welcher ich «mein Daheim» erforsche und dabei eine ganze Fülle von Gefühlszuständen erlebe: von neugierigem Erkunden, über Freiheit und Abenteuerlust, bis hin zu Einsamkeit, Orientierungslosigkeit oder auch Geborgenheit. Diese innere Landkarte wurde dann zum Leitgedanken für die Anordnung der Bilder im Buch.

Welche Botschaft verknüpfst du mit deinen Bildern? Was sollen die Menschen beim Betrachten mitnehmen?

Ich möchte den Betrachter auf eine Reise durch die Rand- und Zwischengebiete von Zürich mitnehmen und die Bilder mit den Stimmungen wirken lassen. Jeder und jede soll dabei seine/ihre Gefühle und Eindrücke erfahren dürfen.

Zudem verstehe ich meine Arbeit als allgemeine Betrachtung des städtischen, öffentlichen und privaten Raumes, der gleichermassen Wohn-, Freizeit-, Arbeits- und Durchgangsort ist. Gestaltet von Menschen für Menschen. Jenen Raum möchte ich ins Bewusstsein rufen und dadurch zum Denken anregen: Wie möchten wir in der Stadt leben? Wo fühlen wir uns zuhause? Und warum?

«Ich richte den Blick insbesondere auf Motive, die oftmals übersehen und vergessen gehen.»

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Seit 2017 lässt du dich in angewandter und künstlerischer Fotografie an der Prager Fotoschule in Linz weiterbilden und hast soeben das Diplomjahr abgeschlossen. Wie würdest du deinen fotografischen Ansatz charakterisieren?

Mir ist es ein Anliegen, vorurteilsfrei und beobachtend an meine fotografischen Motive heranzugehen. Ich habe zwar eine bestimmte Ahnung im Kopf, was ich wie fotografisch umsetzen möchte, dennoch lasse ich mich von den Gegebenheiten und der aktuellen Situation leiten.

Die Fotografie gibt mir die Möglichkeit, gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen und auf diese aufmerksam zu machen. Dabei richte ich den Blick insbesondere auf Motive, die oftmals übersehen und vergessen gehen oder die als eintönig und unattraktiv gelten. Ich möchte deren «verborgene» Schönheit und Ästhetik zum Vorschein bringen und den Betrachter letztlich dazu anregen, eine eigene Interpretation für das Gesehene zu finden.

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Über den Fotografen

Marco Vannotti ist Psychologe und Fotograf. Er absolvierte den Diplomlehrgang für angewandte und künstlerische Fotografie an der Prager Fotoschule in Linz (Abschluss 2022) und hatte im Oktober 2020 seine erste Einzelausstellung in Zürich mit Porträts von betagten Menschen (Einsichten).

Mehr Infos zum Bildband «Zwischenstadt»

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