LGBT-Kolumne | Menschen & Leben

Die Türsteherin hat gesprochen

Kolumne: Anna Rosenwasser

Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Dieses Mal erklärt die LGBT-Aktivistin und Autorin, dass unser fehlendes Wissen über Bisexualität enorm viel Raum für Missverständnisse lässt. Also schafft Anna Rosenwasser ganz einfach Klarheit.

Wir wachsen nicht nur mit mega wenigen bisexuellen Vorbildern auf, sondern auch mit erschreckend wenig Ahnung, was Bisexualität eigentlich ist. Unsere Schulen und Medien erklären es uns selten. Also wie jetzt, ein Mensch steht auf mehrere Geschlechter? Auf alle gleichzeitig? Also polyamourös? Oder mehr so rumschlampen und betrügen?

«Ich bin 52. Ist es zu spät, mich als bi zu bezeichnen?»

Unser fehlendes Wissen über Bisexualität lässt viel, viel Raum für Missverständnisse. Eigentlich ist es gar nicht so uneindeutig: Bisexualität ist eine sexuelle Orientierung. Bisexuelle Menschen fühlen sich zu mehreren Geschlechtern hingezogen. Voilà.

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Das wirft viele, viele Fragen auf. Sie werden auch mir häufig gestellt. Oft klingen die Fragen ein bisschen wie die nervösen Gedanken von Menschen, die vor einem VIP-Club Schlange stehen und sich Sorgen machen, ob sie überhaupt reindürfen. Als ob vor dem Eingang eine Türsteherin stehen und jeder Person zubellen würde: «Du nicht! Du bist nicht bisexuell genug! Zurück zu den Heten mit dir!» Deshalb nehme ich diese Aufgabe heute an mich. Ich bin jetzt Bisexualitäts-Türsteherin.

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«Ich bin eine Frau und seit acht Jahren mit einem Mann zusammen. Bisher hab ich nur ein einziges Mal eine Frau geküsst. Kann ich bisexuell sein?» – Ja, kannst du.
«Ich fühle mich zu vielen Geschlechtern hingezogen. Aber keine Ahnung, ob ich mich selbst überhaupt als Mann oder als Frau identifiziere. Darf ich das Wort Bisexualität überhaupt benutzen?» – Ja, eh.
«Erst seit wenigen Monaten überlege ich mir, ob ich bi sein könnte. Aber ich bin in einer festen Beziehung. Wäre es okay, mich bi zu nennen?» – Natürlich.
«Die Anziehung, die ich zu Männern empfinde, fühlt sich mega anders an als diejenige zu Frauen. Ist das noch bi?» – Kann sein, ja.
«Ich hatte noch nie mit irgendwem Sex. Darf ich mich überhaupt schon als bi bezeichnen?» – Voll.

Bisexualität ist kein Tattoo, das nur sehr schwer rückgängig gemacht werden kann.

«Ich bin ein Mann und habe immer nur Frauen gedatet. Ich finde Männer eher aus der Ferne heiss, auf Bühnen oder in Filmen. Ist das hetero oder bi?» – Wenn du Anziehung zu mehreren Geschlechtern empfindest, kannst du bi sein.
«In Frauen und nichtbinäre Personen habe ich mich schon öfters verliebt, aber zu Männern fühle ich mich null hingezogen. Kann das Bisexualität sein?» – Ja.
«Ich bin 14. Ist es zu früh, mich als bi zu bezeichnen?» – Nein.
«Ich bin 52. Ist es zu spät, mich als bi zu bezeichnen?» – Nein.

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So. Jetzt, wo ich alle, die gezweifelt haben, in den Club reingelassen habe, ist es Zeit, zu sagen, dass auch jede Person jederzeit wieder den Club verlassen darf. Bisexualität ist kein Tattoo, das sich über deinen ganzen Rücken zieht und nur sehr schwer rückgängig gemacht werden kann. Sexuelle Orientierung ist etwas Fluides, etwas, das sich verändern kann und darf im Laufe des Lebens. Manchmal vergessen wir das: Labels dürfen sich ändern. Identitäten dürfen sich weiterentwickeln.

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Sexuelle Orientierung ist etwas Fluides, etwas, das sich verändern kann und darf.

Wenn irgendeine aus dem Club rausspaziert und sagt «ey, ich fühl mich seit einer Weile nur noch zu Frauen hingezogen und das Wort bi fühlt sich nicht mehr richtig an», dann winke ich der Person mit besten Wünschen hinterher. Übrigens auch denen, die ohne Erklärung den Club verlassen. Hm, eigentlich könnte ich auch die Leute, die in der Schlange stehen, reinlassen, ohne dass sie sich erklären müssen.
Moment mal.
Wenn niemand sich für seine bisexuelle Identität erklären muss …
… dann brauchts ja gar keine Bisexualitäts-Türsteherin mehr.
Ich mach dann mal Feierabend.

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