Kultur & Nachtleben | LGBT-Kolumne

Leute aus meiner Kleinstadt können auch gay sein?

Kolumne: Anna Rosenwasser

Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Im April trifft sie auf einer Homo-Party auf einen alten Freund – und denkt nur: «What the fuck!»

Homos, das sind doch die Schwuchteln in den grossen Städten, mit ihren Fetischclubs und halbnackten Regenbogenparaden? In Kleinstädten glaubt man nicht an Homos. Lesben gibt’s nur in Pornos und Bisexualität ist eine Ausrede, um an einer Bravo-Hits-Party mal mit der besten Freundin rumzumachen. Das eigene Geschlecht gut finden, also so richtig gut, das ist eine Erfindung aus den Städten. Gibt’s bei uns nicht. Nicht in unserem Dorf. Nicht in unserer Gemeinde.

So besuchte ich also ein Gymnasium, an dem es genau zwei Queers gab: den Quotenschwulen und die Klischee-Kampflesbe. Niemand sprach das laut aus, aber jeder dachte es leise. Die beiden gehörten in die Schublade der Freaks, und es war keine gute Schublade. (Im Nachhinein finde ich die beiden schampar gut. Shoutout an euch zwei! Mögt ihr ein sehr, sehr homosexuelles Leben haben!)

Das Programm für viele Deutschschweizer Queers lautet also: Ab in die grosse Stadt. Nicht, weil man dort wirklich schwul gemacht wird. Sondern weil es dort Orte und Anlässe gibt, wo man sich selbst sein kann, ohne dass irgendwelche Affen einem «Geil, Lesben!» oder «Scheissschwuchtel!» hinterherrufen. Menschen, die den traditionellen Erwartungen ans Geschlecht nicht entsprechen, können in grösseren Städten eine Community finden, und zwar eine sehr schöne.

Das führt zu dem lustigen Phänomen, dass du im Zürcher Homo-Ausgang plötzlich auf Bekannte aus deiner alten Heimat triffst.

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Photos: Fidel Fernando & Jiroe / Titelbild: Christian Sterk

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Aber bei Milan war ich mir ganz sicher: Der hat sich verirrt. Milan war ein guter Freund von mir zu Teenie-Zeiten, nicht allzu lange, aber intensiv. Auf einmal hatten wir uns auseinandergelebt, weil ich mich rebellisch fühlte und er sich schön, und das passte uns gegenseitig nicht. Er studierte irgendwas Elegantes und ich nicht so, er postete hübsche Bilder auf Facebook und ich vermutlich irgendwelche Antifa-Memes. Was für ein Schnösel, dachte ich jahrelang.

Und dann, an einer friedlichen Gay Party in einem sonst recht heterosexuell geprägten Hipsterclub in Zürich, sah ich ihn: Milan. An einer Gay Party. What the fuck. Für mich war völlig klar: Der gute alte Kumpel hatte sich schlicht verirrt. Der wollte für einmal in der Stadt in den Ausgang und fragte sich jetzt wohl, warum hier so viele Homos knutschen. Fast hatte ich etwas Mitleid mit ihm.

Dann passierte es: Milan, an der Bar stehend, sah mich von Weitem. Er erkannte mich, hob den Arm freudig. Wie in Zeitlupe begann ich nachsichtig zu lächeln, wollte winken und auf ihn zugehen, sah gleichzeitig, wie sich was hinter Milan bewegte. Ein Arm. Der sich langsam um seinen Oberkörper schloss. Während ich, im Discolicht und unter wummerndem Beat, immer näher kam, tauchte hinter Milan ein weiterer schöner Mann auf, ihn liebevoll umschlingend. Als ich bei ihnen angekommen war, begrüssten sie mich ganz lieb.

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In mir drin krachte mein Schubladendenken so fest zusammen, dass eine ganze Kommode zu Bruch ging.

Also wie jetzt? Leute aus meiner Kleinstadt können auch gay sein? Aber er sieht ja vooooll nicht so aus! Aber das hätte ich niiie gedacht! Oh mein Gott!

Oh mein Gott. Wie sich kleinstädtische Vorurteile doch in einem verankern können. Ich hoffe, ich werde sie los. Schublade für Schublade.