Kultur & Nachtleben | Nachtleben-Kolumne

Purple Drank und Lila – von was sprechen wir hier?

Nicht nur im sogenannten Cloudrap findet die Farbe Lila immer stärkeren Niederschlag – nicht etwa als Zeichen eines neu entdeckten Feminismus, sondern als Code für eine Mischung aus Hustensirup und Sprite oder Ice Tea. Doch nicht nur Codein wird besungen. Es geht auch um Xanax, Tilidin oder Lachgas. Was unser Nachtleben-Kolumnist Alexander Bücheli sich mit der Frage beschäftigen lässt, ob es sich hier um einen sich abzeichnenden Trend oder eher ein Kunstphänomen handelt.

Purple Drank, das für eine Mischung aus Hustensirup und Sprite oder Ice Tea steht, wurde bereits in den 1960er-Jahren in Texas als preiswertes und einfach herzustellendes Partygetränk erfunden. Ende der 1990er-Jahre bezeichnete der aus Houston stammende Discjockey DJ Screw Purple Drank als passendes Getränk zu seinem langsamen, narkoseähnlichen Hip-Hop-Stil, den sogenannten Screw-Rhythmus. Als dieser Stil populär wurde, hielt Purple Drank in den Südstaaten und in der regionalen Hip-Hop-Szene Einzug. 2004 gaben 8,3 Prozent aller Oberschüler*innen aus Texas an, Erfahrungen mit Purple Drank gemacht zu haben. Ab 2010 fand Purple Drank immer mehr auch in die europäische Hip-Hop-Szene, hier unter dem Codenamen Lila. Heute wird der narkoseähnliche, langsame Sound meist als Cloudrap bezeichnet.

In den eher simplen Texten dreht sich praktisch alles um die Themen Sex, Markenkleider und Drogen.

image

Im Jahr 2014 erhielt der deutsche Cloudrap seine erste Hymne: «Nasa», ein Stück verstrahlter Angeber-Rap aus einem lila schimmernden Paralleluniversum. «Nasa» war nicht nur eine Hymne, sondern auch ein Wegweiser für eine neue Ästhetik im deutschen Hip-Hop. Cloudrap steht heute weniger für einen musikalischen Stil, sondern vielmehr für eine gemeinsame Ästhetik: Lo-Fi-Sound, schnell gebastelte Beats, selbst gedrehte Musikvideos und mit Autotune verfremdete Stimmen. In den eher simplen, repetitiven Texten dreht sich praktisch alles um die Themen Sex, Markenkleider und Drogen. Zum Lifestyle gehören oft gefärbte Haare, Piercings und Gesichtstattoos. Die Anhänger*innen eint zudem ihre Faszination für verschreibungspflichtige Medikamente: allen voran Purple Drank, aber auch Xanax oder opiathaltige Schmerzmittel wie Tilidin. Zu den bekanntesten Rapper*innen im deutschsprachigen Raum zählen Bonez MC, RAF Camora, Ufo361, Gzuz, Money Boy, Hustensaft Jüngling, Bausa, Capital Bra, Yin Kalle, T-low und Lil Lano. Sie alle erwähnen in ihren Texten ihren Konsum der Droge.

Ein Mischkonsum kann tödlich enden.

Codein ist ein Arzneimittel. Seine Wirkung ist sehr individuell und reicht von Gelassenheit, Unbeschwertheit, Euphorie, Aufgeregtheit bis hin zu einer Steigerung des Selbstbewusstseins. In höheren Dosen (100–200 mg) tritt eine stark beruhigende, leicht sedierende Wirkung ein. Benzodiazepine wirken angstlösend, beruhigend, einschläfernd und muskelentspannend. Wird noch mehr konsumiert, kommt es zur Verlangsamung und Schläfrigkeit bis hin zu Gedächtnislücken («Filmriss»).

Anzeige

Zu den bekannten Nebenwirkungen zählen Mundtrockenheit, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Frösteln, erhöhte Temperatur, Schwitzen, Dehydration, Appetitlosigkeit. In sehr hohen Dosen treten starke Schläfrigkeit, Abnahme der Atemfrequenz (bedrohlich!) und ein Betäubungsgefühl auf. Und bei Überdosierung oder in Kombination mit anderen beruhigenden Substanzen – sogenannten Downern – kann es schliesslich zu einer lebensgefährlichen Atemlähmung kommen. Die Todesursache geht in den meisten Fällen auf einen Mischkonsum von Codein mit anderen den Körper beruhigende Substanzen wie Benzodiazepine, Opiate und/oder Alkohol zurück. Das Risiko eines tödlichen Atemstillstands ist beim Mischkonsum also deutlich erhöht. Als Langzeitrisiken werden eine Toleranzentwicklung und Einschränkung des medizinischen Potenzials, Abhängigkeit mit psychischen und körperlichen Symptomen, verminderte sexuelle Lust, Unfruchtbarkeit, Verstopfung, Schlafstörungen und Ruhelosigkeit genannt.

image

Wo ein Wille ist, ist auch Codein.

Wie verbreitet der Konsum von Codein und Benzodiazepinen zu Rauschzwecken in der Schweiz ist, lässt sich nur schwer abschätzen – wie immer, wenn es um den Konsum berauschender Substanzen geht, ist die Dunkelziffer gross. Im Rahmen einer im Jahr 2020 von Infodrog Schweiz – in Zusammenarbeit mit verschiedenen Präventions- und Szeneangeboten wie Saferparty.ch – durchgeführten Befragung zum Thema Freizeitdrogenkonsum gaben rund rund 16 Prozent von etwas mehr als 500 Personen an, in den letzten Monaten mindestens einmal Benzodiazepine konsumiert zu haben. Der Anteil anderer psychoaktiver Medikamente, zu denen Codein zählt, fällt fast gleich hoch aus.

image

Im Rahmen der Global Drug Survey gaben knapp 15 Prozent der Umfrageteilnehmenden an, in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal ein verschreibungspflichtiges opiathaltiges Schmerzmittel konsumiert zu haben. Grosse mediale Aufmerksamkeit erregte das Thema Codeinmissbrauch und Mischkonsum mit anderen Substanzen im Jahr 2018, als im Kanton Luzern zwei Jugendliche an einer Mischung verschiedener Substanzen, darunter Codein, verstarben. Auch 2019 und 2020 gab es Todesfälle von Jugendlichen, die in Verdacht stehen, mit einer solchen Kombination zusammenzuhängen. Als Reaktion auf den steigenden Missbrauch stufte Swissmedic 2019 Hustensaft mit Codein als dokumentationspflichtiges Medikament ein. Wird Codein nicht von einer Ärztin oder einem Arzt verschrieben, muss in der Apotheke ein Beratungsgespräch durchgeführt und die Abgabe dokumentiert werden. Doch wo es eine Nachfrage gibt, existiert auch ein Angebot. An den codeinhaltigen Hustensaft scheinen die Jugendlichen ohnehin zu gelangen. Selbst auf Instagram werden codeinhaltige Medikamente angeboten.

Rapper nennen das Medikament heute in einer Reihe mit Gucci-Brillen und Champagner.

image

Hustensaft und Benzodiazepine haben es durch den Hip-Hop geschafft, von uncoolen Medikamenten zu zweifelhaften Statussymbolen zu werden. Besangen die Rolling Stones Xanax in den 1960er-Jahren noch als «mother’s little helper», nennen Rapper das Medikament heute in einer Reihe mit Gucci-Brillen und Champagner. Die Drogen tauchen nicht nur in den Texten, als Accessoires in Musikvideos und in den sozialen Medien auf. Auch ästhetisch prägen sie die Kultur, indem sich auf Covern und T-Shirts das charakteristische Lila des Hustensaft-Cocktails wiederfindet, in den Songs schwingt der nebulöse Sound eines Drogenrauschs im dunkel verhangenen Schlafzimmer mit. Über Sucht, vor allem die eigene, über Absturz und Abhängigkeiten wurde kaum gesprochen. Die Rapper der neuen Generation sehen ihren eigenen Drogenkonsum mal als Zeichen von Coolness oder Teil einer nie endenden Party, manchmal auch als Akt von Realitätsflucht und/oder Selbstzerstörung.

Anzeige

Drogentrends folgen Wellenbewegungen.

Zurück zur ausgehenden Frage, ob es sich um ein aktuelles Phänomen oder um einen neuen Trend handelt: Es lässt sich festhalten, dass auch in der Schweiz Benzodiazepine, Hustensirup und opiathaltige Medikamente zu Rauschzwecken konsumiert werden. Drogentrends folgen dabei meist Wellenbewegungen – ob der Konsum tendenziell eher ab- oder zunimmt, lässt sich nicht abschliessend feststellen. Untersuchungen zeigen aber, dass gerade der Konsum von Benzodiazepinen und anderen psychoaktiven Medikamenten gemäss der Infodrog-Umfrage während der Covid-Pandemie eher zugenommen hat. Was wiederum kaum überrascht, wird diese doch von nicht wenigen Menschen als eher angstlösend wahrgenommen. Dämpfende und angstlösende Substanzen passen somit eher zu einer Pandemie als Speed oder Kokain.

image

Hält dieser Trend auch nach der Pandemie an, lässt sich erstmals nach Jahrzehnten eine Verschiebung des Freizeitkonsummusters in Richtung dämpfende Substanzen beobachten – nachdem jahrelang eher stimulierende Substanzen en vogue waren. Da die Gefahr eines medizinischen Notfalls bei hohen Dosen und vor allem bei Mischkonsum verschiedener dämpfender Substanzen steigt, braucht es dementsprechend auch Aufklärung darüber, welche Mischungen und Mengen gefährlich sind und wie man sich zu verhalten hat, wenn man mit einem Drogennotfall konfrontiert ist.