Die Italienerinnen der Migros
Ab dem Sommer 1946 machen sich im kriegsversehrten Trentino tausende junger Frauen auf den Weg, um bei einer Schweizer Familie eine Stelle als Dienstmädchen anzutreten.
Die Italienerinnen heissen Bruna oder Laura, Alessia oder Silvia, sind 18 oder 20 Jahre jung und entstammen kinderreichen Familien. Für sie alle ist es die erste Reise, hinaus aus der Armut ihrer Dörfer in ein fremdes Land − das sie dringend erwartet. Den ganzen Sommer über fahren wöchentlich Eisenbahnzüge voller Ragazze nach Chiasso und von dort weiter in alle Regionen der Schweiz. So werden am 22. August 127 Dienstmädchen spediert, am 29. August weitere 120 und gleichentags wird zudem die Abreise von 40 Bauerndienstmädchen avisiert. Abgefertigt werden die Dienstmädchenzüge von einem Prokuristen der Migros mit Arbeitsort Grande-Albergo, Trento. Sein Auftraggeber ist der Migros Genossenschaftsbund in Zürich.
Die Aktion wird zu einem Selbstläufer.
Diesen «Direktimport» von jungen Frauen aus Norditalien hat sich der zeitlebens umtriebige Gottlieb Duttweiler kurz nach Kriegsende einfallen lassen. Bei dem von ihm «Trentiner-Aktion» genannten Angebot, konnten kinderreiche Familien eine junge Italienerin bei der Migros bestellen. Die Aktion wird zu einem Selbstläufer. In den ersten Monaten kommen die Anwerber vor Ort kaum hinterher, die vielen Wünsche zu erfüllen, derweil sich in Zürich die Migros-Zentrale im Erfolg sonnt und im Brückenbauer ganzseitige Berichte über diese Wohltat verbreitet werden: «Unsere grosse Genugtuung ist, dass wir gerade den am meisten überlasteten Hausfrauen auf dem Lande, kinderreichen Familien und Kleinpensionen, die seit Monaten und Jahren vergeblich nach einer Hausangestellten suchten, endlich eine Hilfe beschaffen konnten.»
Die Migros verhalf etwa 3000 Schweizer Familien zu einer Haushaltshilfe.
Von nun an gehört auch eine schwarzgelockte Maria zur Migros-Familie. Im Werbespielfilm «Familie M», den Duttweiler 1947 produzieren lässt, erklärt die Mutter beim sonntäglichen Mittagessen ihrem freundlichen Nachbarn: «Du, d Maria isch dänn au vo de Migros» worauf der, mit verklärtem Männerblick in die Kamera sinniert: «Ja, ich wär jetzt au no froh um sones Tschinggeli, mini Frau isch nämlich grad i de Ferie.»
So ein «Tschinggeli» war auch Agnese aus Civezzano. «Es war notwendig», erinnert sie sich: «Wir waren eine povera famiglia. Ich hatte acht Geschwister. Wir waren arm. Unsere Matratzen waren mit Maisblättern gestopft. Ich war die Älteste, also bin ich gegangen. Wir waren viele. Aus allen Dörfern sind wir gekommen, alle von der Migros angeworben. Wir wussten nur, dass in der Schweiz Signori auf uns warten, die eine Ragazza brauchen.»
Agnese war zu einem Monatslohn von 120 Franken auf der Bestellliste für Zürich. Im Hauptbahnhof wurden die Trentinerinnen durch das Migros-Personal und die Frauen der Bahnhofshilfe in Empfang genommen. «Der Zug war voller Frauen. Jemand mit einer Liste führte uns wie eine Gänseherde in einen Wartesaal und dort erwarteten uns die Svizzeri. Wir wurden ausgerufen wie Ware: Agnese hat Kinder gern, sie kann kochen und ist fleissig. Wer nimmt Agnese? Mein Koffer war praktisch leer. Ich hatte nur ein Hemd von meiner Mutter dabei. Meine Padroni haben mich dann eingekleidet: Schuhe, ein Rock, die Schürze. Ich bin damals in die Schweiz gegangen, weil es für uns bitter notwendig gewesen ist.»
Zwischen Juni 1946 und Februar 1947 verhilft die Migros etwa 3000 Schweizer Familien zu einer Haushaltshilfe aus dem Trentino. Eigentlich sollten es 5000 werden, doch die italienischen Behörden wollten auf Druck der Gewerkschaften die ungeregelte Anwerbung von Arbeitskräften nicht länger tolerieren. Im Juni 1948 unterzeichnen Italien und die Schweiz das erste gemeinsame Abkommen über die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte.
Kooperation
Auf dem Blog des Landesmuseums gibt es regelmässig spannende Storys aus der Vergangenheit. Zum Beispiel «Die schwimmenden Brücken auf dem Zürichsee».