Kultur & Nachtleben

«Uns hat erstaunt, dass Sex immer noch so ein Tabu ist»

Interview: Eva Hediger Fotos: Sabrina Weniger

Erste Male, Bondage und wiederentdeckte Lust: In der Audioinstallation «Intime Revolution» erzählen Menschen aus ihrer sexuellen Biografie. Es ist die erste gemeinsame Arbeit der Theaterschaffenden Anna Papst und Mats Staub.

Was sind das für Menschen, die in «Intime Revolution» über Sex sprechen?

Anna Papst: Es sind völlig verschiedene homo-, bi- und heterosexuelle Menschen. Sie sind zwischen Mitte zwanzig und siebzig Jahre alt. Sie definieren sich als Männer, Frauen oder non-binär. Doch sie haben eine Gemeinsamkeit: Sie alle mussten eine Schwierigkeit überwinden, um ihre Sexualität voll entfalten zu können.

Hast du ein Beispiel für eine solche Schwierigkeit?

Anna: Eine Frau führte über zwanzig Jahre lang eine freudlose Ehe. Sex war für sie nur eine Pflicht. Erst nach der Scheidung entdeckte sie Leidenschaft. Eine andere Frau verlor durch Krebs eine Brust. Sie musste Weiblichkeit für sich neu definieren und Sex wiederentdecken. Es sind also alles verschiedene, ganz individuelle Geschichten.

«Männer sagten mir, dass sie sonst nicht über Sex sprechen.»

Mats Staub

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Erkennen sich die Zuhörer*innen trotzdem in den Geschichten wieder?

Anna: Bei «Intime Revolution» geht es nicht um Exotik, sondern um Resonanz. Auch wenn sich die Biografien teilweise von meiner eigenen unterscheiden, so finde ich mich doch in ihnen wieder. Das ist für mich das Schönste an diesem Projekt. Zum Beispiel erzählt ein körperbehinderter fünfzigjähriger Mann, dass er auf Bondage steht. Als ich ihm zuhörte, merkte ich plötzlich, dass es hauptsächlich um Vertrauen geht – ein Thema, das auch mich beschäftigt.

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War es schwierig, Leute für das Projekt zu gewinnen?

Mats Staub: Es hat Geduld gebraucht und wir mussten verschiedene Wege gehen, um Teilnehmende zu finden. Es hat aber geholfen, dass wir absolute Anonymität gewähren konnten. Die Interviews wurden von uns verdichtet und dann von Schauspieler*innen nachgesprochen. Uns war es wichtig, uns viel Zeit für die Gespräche zu nehmen. Ich merkte schnell, dass ich dabei auch über mich und meine Erfahrungen sprechen muss. Zu Beginn fiel mir das nicht leicht, doch das legte sich.

Drehten sich die Gespräche nur um Sex?

Anna: Nein. Uns ging es schliesslich nicht um irgendwelche Praktiken, sondern um das emotionale Erleben von Sex. Dabei kann man die Biografie gar nicht weglassen.

«Über die emotionale Seite von Sex spricht kaum jemand.»

Anna Papst

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War es für die Leute das erste Mal, dass sie ihre Geschichte so erzählt haben?

Mats: Ja, teilweise schon. Und sie waren dankbar dafür. So zum Beispiel eine ältere Frau, die vorher noch nie darüber gesprochen hat, dass sie ein sehr ausschweifendes Sexualleben führt. Wüssten ihre Freundinnen davon, würden sie den Kontakt mit ihr abbrechen. Männer sagten mir immer wieder, dass sie sonst eigentlich nicht über Sex sprechen, sondern nur oberflächliche Bemerkungen dazu machen.

Anna: Das hat mich am meisten erstaunt – dass Sex immer noch so ein Tabu ist. Eigentlich könnte man ja denken, dass das Thema auserzählt sei, schliesslich berichtet sogar SRF über Analsex. Doch über die emotionale Seite spricht kaum jemand. Das merkt man auch daran, dass vielen dafür das Vokabular fehlt. Entweder klingt es supervulgär oder so, als würde man aus einem Biologiebuch zitieren.

Mats: Es wäre schön, wenn «Intime Revolution» dazu beitragen könnte, eine solche Sprache zu finden. Deshalb wollen wir das Projekt fortführen und weitere Gespräche aufnehmen.

Infos

«Intime Revolution» wird zwischen Dienstag, 23. August 2022, und Dienstag, 30. August 2022, am Theater Spektakel in Zürich gezeigt. Mehr Infos findest du hier.

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