Kultur & Nachtleben

Eine moderne Scheherazade

Text: Heike Specht

Noch sind Kokospalme und Affenbrotbaum die Hauptdarsteller, schon bald aber verwandelt sich das Palmenhaus in der Zürcher Pelikanstrasse wieder in einen magischen Ort. Vom 1. bis 6. Mai versammelt Sibylle Baumann, die Gründerin der «Geschichtenoase», hier Erzähler aus dem Iran, aus Israel, Dänemark, der Türkei und der Schweiz, um das Publikum in die Welt der Geschichten zu entführen. Dieses Jahr kreisen die Erzählungen um das ewige Thema von Frieden und Unfrieden.

Als ich Sibylle Baumann an einem sonnigen Nachmittag in einem quirligen Café im Kreis 4 treffe, will ich zunächst eins wissen: «Können Geschichten tatsächlich Grenzen und Gräben überwinden?» Sibylle Baumann nickt, sie ist davon überzeugt. «Erzählungen», sagt sie nachdenklich, «haben eine völkerverbindende Funktion. Sie beschäftigen sich mit den grossen Menschheitsthemen.»

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In diesem Jahr treten zum Beispiel der Iraner Sahand Sahebdivani und der Israeli Raphael Rodan zusammen auf und begleiten die Zuhörer ins «Königreich aus Feuer und Lehm». Die beiden kommen aus Ländern, die seit Jahrzehnten verfeindet sind. Die Legenden und Mythen aber, die sich ihre Völker seit Generationen erzählen, legen ein Fundament, auf dem man sich als Mensch begegnen kann. «Geschichten sind universell», erklärt Sibylle Baumann und nimmt einen Schluck Kaffee. Im Grunde geht es überall auf der Welt um die gleichen Themen: Liebe und Hass, Wahrheit und Lüge, Treue und Verrat. Durch Erzählungen können wir ohne viel Mühe in fremde Kulturen eintauchen und werden schnell feststellen, wie viel uns verbindet.

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Das Eintauchen in zum Teil uralte, mündlich überlieferte Märchen und Erzählungen ist eine faszinierende Reise. Ganz ohne Gepäck und Jetlag.

In dem berühmten Zyklus «Tausend und eine Nacht» fesselt Scheherazade, die Tochter des Wesirs, den persischen König jede Nacht mit ihren klugen und spannenden Geschichten und rettet so am Ende ihr Leben. Scheherazade ist sozusagen die Urahnin der Erzählerin Sibylle Baumann. Zum Glück aber muss sie nicht um ihr Leben erzählen. Ihr Ziel ist es vielmehr, ihren Zuhörern einen spannenden Abend zu bereiten, sie aus dem Alltag zu reissen, sie träumen zu lassen. Um die fast vergessene Kunstform des Erzählens wieder lebendig zu machen, hat Sibylle Baumann vor sechs Jahren die «Geschichtenoase» gegründet. Das Eintauchen in zum Teil uralte, mündlich überlieferte Märchen, Parabeln und Erzählungen – das beweist sie seither ihrem Publikum – ist eine faszinierende Reise. Ganz ohne Gepäck und Jetlag.

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Was liebt sie so am Geschichtenerzählen, frage ich. Sibylle Baumann muss nicht lange nachdenken: «Es geht um uns Menschen, das ist so faszinierend. Geschichten zeigen uns, wer wir sind.» Seit vielen Jahren sammelt sie Märchen, Schwänke, Fabeln und Mythen aus der ganzen Welt. Schon als Kind sei sie fasziniert gewesen von Erzählungen, hat zum Beispiel die Bücher von Astrid Lindgren verschlungen, aber auch «Raumschiff Enterprise», «Heidi», und natürlich hat es ihr die tschechische Fernsehserie «Die Märchenbraut» angetan. Als Erwachsene fing sie dann an, gezielt nach Geschichten zu suchen, kaufte sich immer neue Bücher, stöberte in alten Sammlungen, hörte zu, wenn andere erzählten. «Mittlerweile», sagt sie und lächelt, «kommen die Geschichten zu mir.»

«Es geht um uns Menschen, das ist so faszinierend. Geschichten zeigen uns, wer wir sind.»

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Das Erzählen ist für Sibylle Baumann ein einmaliges Erlebnis. «Durch den Kontakt mit den Zuhörern entsteht etwas ganz Besonderes», sagt sie geheimnisvoll, «Ein magischer Raum tut sich auf.» Durch die Interaktion mit dem Publikum wird die Erzählung jeweils auf einzigartige Weise zum Leben erweckt. Begleitet wird sie dabei von Musik. «Man muss den Zuhörern ja auch mal Zeit zum Verschnaufen geben.»

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Bevor Sibylle Baumann aber vor ihr Publikum tritt, muss sie die Geschichten, die sie vorträgt, x-mal durcherzählen und proben. Meistens geht sie dabei laut redend allein durch ihre Wohnung. «In mir müssen Bilder entstehen», erklärt sie mir, «erst so wird die Geschichte für mich lebendig.» Wenn Baumann dann vor ihren Zuhörern steht, ruft sie diese Bilder ab. «Ich bin dann wirklich in dieser Geschichte», sagt sie, schaut mich mit ihren blitzenden blauen Augen an und ich bin hundertprozentig sicher, dass es für ihre Zuhörer nichts Schöneres gibt, als ihr in die Geschichte zu folgen.

Adresse

Palmenhaus
Alter Botanischer Garten
Pelikanstrasse 40
8001 Zürich

Infos

Die «Geschichtenoase» geht vom 1. bis 6. Mai 2018 über die Bühne. Details zum Programm und zu den Familienvorstellungen findest du hier. Aufgrund der begrenzten Platzzahl wird eine Reservation empfohlen.