LGBT-Kolumne

Der innere Polizist liegt falsch

Kommentar: Anna Rosenwasser

Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Im Dezember hat sich die Geschäftsführerin der Lesbensorganisation Schweiz mit den Vorurteilen konfrontiert, die sie gegenüber Männern in Anzügen hegt.

Vorurteile sind ein bisschen wie Polizisten: Solange wir nicht mit ihnen konfrontiert werden, glauben wir, alles sei okay. Weil sie uns ein Gefühl der Sicherheit geben.

Ich wünschte, ich hätte keine Vorurteile. Manche Leute glauben das ja: dass diejenigen, die gegen Vorurteile kämpfen – Homo-Aktivistinnen, Feministen, Anti-Rassistinnen –, selbst keine mehr haben. Blödsinn, Blödsinn, Blödsinn! Die inneren Polizisten sind fix in unseren Hirnen eingebaut. Sie helfen uns, eine sehr komplizierte Welt etwas besser zu verstehen. Statt dass alles wild auf dem Boden verstreut liegt, packt man das Zeug in Schubladen. Dann herrscht wenigstens ein bisschen Ordnung im grossen Chaos. Und meistens ist das gar nicht so übel! Kindergärtler im Sechsertram: Gefahr, weil Lautstärke, eventuell am anderen Ende des Trams einsteigen. Dialogerinnen auf der Bahnhofbrücke: Gefahr, weil unfreiwillige soziale Interaktion, besser Strassenseite wechseln. Supermarkt im Shopville am Sonntagabend: Gefahr! Gefahr! Gefahr! Tausend Menschen, kein Durchkommen.

Manche Vorurteile haben eine echt hohe Erfolgsrate.

Vorurteile sind praktisch. Sie heissen so, weil sie urteilen, bevor die Erfahrung gemacht werden muss. Quasi urteilen auf Vorrat. Manche Vorurteile haben eine echt hohe Erfolgsrate (oder hast du schon mal einen friedlichen Abend im Shopville-Supermarkt an einem Sonntagabend verbracht?). Aber manche machen ihren Job lausig.

Wie bei Polizisten ist es auch bei den Vorurteilen: Sie haben einen schlechten Ruf, weil manche von ihnen nicht ganz fair sind. Wenn Vorurteile zutreffen, dann nennen wir sie meist gar nicht mehr so. Das Urteilen vor der Erfahrung ist nur dann ein Vorurteil, wenn es lausig ist.

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Ich habe ein Vorurteil, das mir recht unangenehm ist. Weil ich schwören könnte, ich hätte es abgebaut – und dann ertappe ich mich wieder, wie es in meinem Kopf herumpolizistelt und dabei einen lausigen Job macht. 

Ich habe Vorurteile gegenüber Herren in Anzügen. Ich meine, Leute diskutieren abwechslungsweise, ob verhüllte Frauen oder nackte Frauen unsere Gesellschaft bedrohen … Aber wenn ich mir so ansehe, wer der Welt Schaden zufügt, sind das eigentlich meistens Männer im Anzug.

Die haben sicher keine Ahnung von Diskriminierung!

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Jedenfalls wurde ich kürzlich als Teilnehmerin an ein politisches Podium eingeladen, in dem es darum ging, ob Aufruf zu Hass gegen Homos strafbar werden sollte. Organisiert hatten den Anlass die HSG und die ETH, ein Komitee aus Männern in Anzügen. Im Publikum: Männer in Anzügen. Ich: tausend Vorurteile. Sie sind sicher alle gegen mich! Die wollen sicher nicht noch mehr Gesetze! Die haben sicher keine Ahnung von Diskriminierung!

Ich sass auf diesem Podium, gab mein Bestes und rechnete fest damit, früh nach Hause zu gehen. Ist ja nicht meine Art von Anlass. Sind ja nicht meine Art von Leuten.

Dann war das Podium vorbei und viele Männer im Anzug sprachen mich an. Sie waren … respektvoll. Sie sagten … clevere Dinge. Ja, man kann sagen, sie waren … sehr, sehr sympathisch. (Und zusätzlich dann auch noch meiner Meinung, was das Diskussionsthema betraf.) Ich verstand die Welt nicht mehr. Mit jedem lieben Mann im Anzug brach eine weitere Ecke meiner Vorurteile weg. Stundenlang redete ich mit meinen neuen Freunden. Etwas verschämt ging ich, viel später als erwartet, nach Hause. Auf diesem Nachhauseweg nahm ich mir vor: Das Nächste, was ich kaufe, ist ein Anzug.